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Eine Mitarbeiterin des TÜV Rheinland in Nürnberg prüft Toastbrotscheiben nach der Norm DIN EN 60442. Das Bild stammt aus der Serie "The Beauty of Serious Work" vom Fotografen Andreas Meichsner

210 Millimeter mal 297 Millimeter, das ist die Standardgröße eines Blattes. DIN-A-4 heißt dieses Format, das vielen aus dem Alltag geläufig ist. Vor fast 100 Jahren wurde dieses Format festgeschrieben vom Normenausschuss der deutschen Industrie, der seit 1975 Deutsches Institut für Normung (DIN) genannt wird. Die Papiergröße ist ein gutes Beispiel für das, was mit Normen erreicht werden soll: die Schaffung einheitlicher Standards. Die Papiergrößen, seit 1922 offiziell unter DIN 476 geregelt, sind mittlerweile weltweit bekannte Standardgrößen. Die internationale Norm dazu heißt übrigens DIN EN ISO 216 und zeigt den Weg, den nationale Normen nehmen können.

Doch wer steckt hinter dem Deutschen Institut für Normung? Es ist ein eingetragener Verein, privatwirtschaftlich getragen. Seine Normen gelten als "freiwillige Vereinbarung interessierter Kreise". Wird jedoch in Gesetzen, Vorschriften oder Ausschreibungen auf sie verwiesen, entfalten sie eine verbindliche Wirkung. Jede*r kann einen "Antrag auf Normung" stellen, wie es offiziell heißt. Vom Antrag bis zur Norm dauert es in der Regel zwei bis drei Jahre. Je nach Ausrichtung der Norm werden verschiedene Kommissionen des DIN daran beteiligt. Bevor die Norm im Konsensverfahren angenommen wird, wird der Entwurf veröffentlicht, sodass auch die Öffentlichkeit Einsprüche erheben kann.

34.000 Normen sind derzeit beim Deutschen Institut für Normung verzeichnet. "Ob Kegelstift oder Babyschnuller, Treppe oder Schraube, Leiter oder Zahnbürste – fast nichts in unserem Alltag ist nicht von Normen erfasst", heißt es auf der Website din.de zur Reichweite.

Die Stimme des Arbeitsschutzes

Die Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN) ist die Stimme des Arbeitsschutzes in der Normung. Sie prüft bei allen neuen Normprojekten, ob der Arbeitsschutz berührt wird. Sie kann zu Normenentwürfen Stellung beziehen. Ihre 17 Mitglieder vertreten "für den Arbeitsschutz relevante Institutionen" (siehe Kasten). Michael Bretscheider-Hagemes vertritt die Gewerkschaften über das Sozialpartnerbüro der Arbeitnehmer in der KAN-Geschäftsstelle. Durch dieses Engagement erfolgt eine systematische Meinungsbildung, um gewerkschaftliche Positionen in die Arbeit der KAN, aber auch in das Normungsgeschehen einzubeziehen.

Als ein Beispiel für die aktuelle Arbeit nennt Bretschneider-Hagemes die Überprüfung einer Normenreihe über Leitern. Die Hersteller haben ein großes Interesse daran, die Auftrittsfläche klein zu halten, aus Sicht von Arbeitsschützer*innen führt das aber zu mehr Absturzunfällen. "Die Technische Regel für Betriebssicherheit, TRBS 2121-2 verläuft aufgrund der hohen ergonomischen Belastung nach Stufen, nicht nach Sprossen, wenn Leitern als Arbeitsplatz dienen", sagt er. Immer wieder komme es vor, dass über Normen neue Fakten geschaffen werden sollen und die Widerspruchsfreiheit des Regelwerks in Frage steht.

Früher waren es überwiegend technische Standards, die über Normen definiert wurden. Insbesondere Unternehmen profitieren von aus Normen resultierenden Kosteneinsparungen und Vereinfachung des internationalen Handels. Viele sind internationale Normen. Seit zehn, 15 Jahren betreffen immer mehr Normen Dienstleistungen und Managementsysteme. Zu den bekanntesten zählen sicherlich die aus der ISO 9000er-Reihe zum Qualitätsmanagement. Unternehmen, die sich danach zertifizieren lassen, arbeiten weltweit nach den gleichen Standards. Diese Zertifizierung ist zwar regelmäßig mit Kosten verbunden, doch um im Wettbewerb mit anderen mithalten zu können, ist sie für viele unerlässlich. So werden mit Normen nicht nur Standards, sondern auch Märkte geschaffen.

Pflege nach Norm

Ein noch junges Format sind DIN SPEC-Dokumente. Sie können innerhalb kurzer Zeit in einem sogenannten Workshop-Verfahren außerhalb des üblichen Verfahrens gängiger Normen erarbeitet werden. Ein Beispiel ist die jüngst veröffentlichte DIN SPEC 33454. Inhaltlich geht es um "Betreuung unterstützungsbedürftiger Menschen durch im Haushalt wohnende Betreuungskräfte aus dem Ausland". Sie regelt "Anforderungen an Vermittler, Dienstleistungserbringer und Betreuungskräfte". Initiiert wurde das Verfahren von dem Unternehmen mecasa, das osteuropäische Betreuungskräfte für die häusliche Betreuung von Pflegebedürftigen vermittelt, die rund um die Uhr in deren Haushalt wohnen. Auf ihrer Website wirbt mecasa mit der von ihr initiierten DIN SPEC: "Der DIN-Standard zertifiziert hohe Versorgungsqualität, faire Arbeitsbedingungen und Transparenz für Verbraucher sowie Betreuungskräfte."

Doch an dem Versprechen, dass diese DIN SPEC faire Arbeitsbedingungen in dieser Branche gewährleistet sind, zweifelt Justyna Oblacewicz stark. Sie ist Referentin beim DGB-Beratungsnetzwerk "Faire Mobilität" und hat in ihrer täglichen Arbeit viel mit Frauen zu tun, die aus Osteuropa nach Deutschland gekommen sind, um hier rund um die Uhr Pflegebedürftige in deren Haushalt zu betreuen. Daher weiß sie, dass bei dieser Form der Arbeit die Grenzen von Arbeits-, Bereitschafts- und Freizeit verschwimmen und die Bezahlung oft nicht der tatsächlich geleisteten Arbeit entspricht. "Wir haben sehr große Zweifel, dass lediglich eine Aufklärung der Verbraucher zum Arbeitszeitgesetz und Mindestlohn durch die Vermittlungsagenturen die massiven Arbeitszeit- und Mindestlohnverstöße bei den Betreuungskräften verhindern kann." Diese Aufklärung ist in der DIN SPEC 33454 vorgesehen.

Oblacewicz sieht eher die Gefahr, dass die Agentur das Risiko, bei Verstößen in Haftung genommen zu werden, auf die Familien abwälzt. Die Betreuungskräfte werden, so zeigen es die Erfahrungen bei "Faire Mobilität", von den Agenturen bei Problemen häufig allein gelassen. Die DIN SPEC stelle zwar hohe Anforderungen an die Betreuungskräfte hinsichtlich von Kenntnissen in Erster Hilfe, Grundpflege und Sprache, regele aber nicht, ob diese Kenntnisse auf eigene Kosten oder durch die Agentur vermittelt werden. "Die Betreuungskräfte werden häufig nicht ausreichend auf die bevorstehenden Aufgaben vorbereitet, was in aller Regel zur Überforderung und Verzweiflung führt", hat sie festgestellt.

DIN-Norm ersetzt Kontrolle nicht

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Zumindest die Hebehilfe für die Pflegerin ist garantiert genormtFoto: Moritz Küstner / Agentur Focus

Sie hat auch Zweifel daran, dass sich die Überprüfung der ausländischen Agenturen, mit denen Vermittlungsfirmen häufig zusammenarbeiten, durch diese DIN SPEC verbessert. Vorgesehen sind hier eine jährliche schriftliche Auditierung sowie ein persönliches Treffen alle zwei Jahre. "Dass das mit unabhängiger und kritischer Prüfung nichts zu tun hat, liegt auf der Hand", sagt Oblacewicz. mecasa selbst spricht hingegen auf der eigenen Website von "strengen Vorgaben".

An denen hat auch Dietmar Erdmeier vom Bereich Gesundheitspolitik des ver.di-Bundesvorstands seine Zweifel. Er vermisst den klaren Ausschluss von Pflegeleistungen, denn dafür brauche es eine qualifizierte Ausbildung, über die die 24-Stunden-Betreuungskräfte in der Regel nicht verfügen. Ihre Aufgabe könne nur die Unterstützung im Alltag sein, etwa durch Unterhaltung oder die Übernahme von Aufgaben im Haushalt, zu festgelegten Arbeitszeiten und in keinem Fall rund um die Uhr. "Diese DIN SPEC, die von vielen fälschlicherweise als vollwertige Norm wahrgenommen wird, verschafft den Vermittlungsagenturen eine weiße Weste, ohne dass irgendeine unabhängige Kontrolle erfolgt", kritisiert Erdmeier.

Für ihn ist eine Betreuung rund um die Uhr generell unrealistisch. ver.di macht sich seit vielen Jahren dafür stark, dass die Solidarische Pflegeversicherung so weiterentwickelt wird, dass die tatsächlichen pflegerischen Bedarfe Pflegebedürftiger auch finanziell abgesichert werden. Pflegerische Leistungen müssten dabei qualifizierten Pflegekräften überlassen bleiben, für haushaltsnahe Dienstleistungen müsste es steuerfinanzierte Anreize geben, kontrollierbare und einklagbare Arbeitsschutzstandards müssten für alle Beschäftigten gleichermaßen gelten. Das ließe sich nur über Gesetze regeln, demokratisch und transparent, nicht über Normen.

Die Gewerkschaften haben sich nicht an dem Verfahren zur Norm beteiligt. Da DIN SPEC-Normen nicht im Konsensverfahren verabschiedet werden, wären sie wahrscheinlich überstimmt worden. Nach drei Jahren werden sie allerdings dahingehend überprüft, ob sie zurück-genommen oder ins reguläre Normungsverfahren übernommen werden. Letzteres kann dann nur im Konsensverfahren passieren.

Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN)

In ihr sind die Sozialpartner*innen, der Staat, die gesetzliche Unfallversicherung und das Deutsche Institut für Normung vertreten. Sie bringt über Stellungnahmen die Sicht des Arbeitsschutzes in laufende oder geplante Normungsvorhaben ein. Dabei schaut sie, ob die Inhalte der Normen den Arbeitsschutzvorgaben Deutschlands und der EU entsprechen. Ihre Beschlüsse sind Empfehlungen in diesen Prozessen, die auf einem möglichst breiten Konsens aller Beteiligten im Arbeitsschutz basieren. Wenn aus Sicht des Arbeitsschutzes Normungsbedarf besteht, kann sie auch eine neue Norm beantragen.

Teil der KAN-Geschäftsstelle in St. Augustin bei Bonn ist ein Sozialpartnerbüro Arbeitnehmer, das auch die Gewerkschaften in Normungsfragen berät. Die KAN hat insgesamt 17 Mitglieder, zu den fünf Gewerkschaftsvertreter*innen zählt unter anderem Katrin Willneker aus der ver.di-Bundesverwaltung.

Mehr Infos: kan.de

Normen weltweit

DIN – Deutsches Institut für Normung; steht für Standards in Deutschland

EN – Europäische Norm, ratifiziert vom Europäischen Komitee für Normung, vom Europäischen Komitee für elektrotechnische Normung oder vom Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen (engl. European Telecommunications Standards Institute) nach einem öffentlichen Normungsprozess. Initiiert werden die Europäischen Normen in der Regel von nationalen Normungsorganisationen oder durch die Europäische Kommission zur Konkretisierung von EU-Richtlinien. Mehr Infos dazu unter

ISO – Internationaler Standard der Internationalen Organisation für Normung. In ihr sind 165 Länder vertreten. Sie erarbeitet Normen in allen Bereichen mit Ausnahme der Elektrik und Elektronik (IEC) sowie der Telekommunikation (ITU)