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Die eigene Bildungsbiografie umschreiben über den Zweiten BildungwegFoto: imago images/Westend 61

Als erster meiner Familie habe ich vor rund 15 Jahren das Abitur erreicht, am Hessenkolleg in Frankfurt, über den Zweiten Bildungsweg. Dreieinhalb Jahre lang verbrachte ich an dem "Staatlichen Institut zur Erreichung der Hochschulreife", das 1960 gegründet wurde und zu den ältesten Kollegs in Deutschland zählt. Während dieser Zeit lebte ich günstig im angeschlossenen Wohnheim. Im Anschluss studierte ich Soziologie und wurde Journalist.

Abendgymnasien kennen die meisten als Schulen des Zweiten Bildungsweges. Dass es für Erwachsene auch möglich ist, tagsüber ihr Abitur nachzuholen, ist weniger bekannt. Dabei gibt es die mehr als 60 sogenannten Kollegs, die bundesweit den Weg zur Allgemeinen Hochschulreife oder zum Fachabitur ermöglichen, schon lange.

Mit den Lehrern auf Augenhöhe

Nach Mittlerer Reife und einer Ausbildung zum Verwaltungsangestellten hegte ich zunächst nur den Wunsch nach beruflicher Veränderung. Mehr oder weniger durch Zufall entdeckte ich das Hessenkolleg. Weil mein späterer Schwager in der Nähe wohnte, fuhr ich nichtsahnend an dem Flachdachbau im Frankfurter Westen vorbei. Da erinnerte ich mich, dass mir zuvor einmal ein Berater des staatlichen Schulamtes, bei dem ich mich nach Weiterbildungsmöglichkeiten erkundigte, davon erzählt hatte. Kurzerhand hielt ich an, besorgte mir die Bewerbungsunterlagen und zog, nach bestandenen Aufnahmetests, einige Monate später nach Frankfurt ins Kolleg.

"Mit meiner Vita habe ich natürlich niemandem gesagt, was meine Ziele waren"
Eric Hohmann, gelernter Koch, derzeit Medizinstudent

Ähnliche Erfahrungen wie ich hat auch Eric Hohmann gesammelt. Nach einer Ausbildung zum Koch holte er sein Abi nach. "Es ist tatsächlich gar nicht so einfach, erst mal von der Möglichkeit des Zweiten Bildungsweges zu erfahren", sagt der 25-Jährige. Dank des Abiturs am Kolleg studiert er nun Medizin in München. Diesen Entschluss hatte er schon während seiner Lehre gefasst, nachdem er zweimal auf einem regulären Gymnasium gescheitert war. "Mit meiner Vita habe ich natürlich niemandem gesagt, was meine Ziele waren", sagt Hohmann. Am Kolleg habe er "mit die schönste Zeit meines bisherigen Lebens" verbracht, sagt er. "Die Lehrer waren alle großartig und man ist sich auf Augenhöhe begegnet."

Einige wechseln nach dem Abitur das Berufsfeld, andere bauen auf ihrer Ausbildung auf. André, einer meiner Mitkollegiaten in Frankfurt und gelernter Elektriker, studierte das Fach Regenerative Energien und arbeitet seit seinem Masterabschluss in einem Solarunternehmen. Sabine Latten war noch unschlüssig, was sie mit ihrem Abi anfangen sollte, als sie ans Kolleg kam: "Ohne vorher zu wissen, was ich danach genau machen wollte, habe ich mich beworben und für die Zeit an der Uni gelernt, mich zu organisieren und strukturiert zu arbeiten", sagt sie. Ihr Abi hatte sie dann mit 30 Jahren in der Tasche. Heute ist sie 45 Jahre alt. Nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin und dem nachgeholten Abitur hat sie Sozialarbeit studiert und ist nach Stationen in der offenen Kinder- und Jugendarbeit sowie im Kinderhaus mittlerweile in der Altenhilfe des städtischen Sozialdienstes in Frankfurt beschäftigt.

Als Arbeiterkind an die Uni

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Sabine LattenFoto: Clemens Dörrenberg

Von der Physio- zur Psychotherapeutin führte der berufliche Weg Karin Nabers. "Ich komme aus einem Arbeiterhaushalt und zu meiner Zeit war es nicht unbedingt üblich – auch bei guten Leistungen nicht – als Mädchen zum Gymnasium zu gehen", sagt Naber, die 1989 ihr Abitur am Kolleg erreicht hat und im Anschluss Psychologie studierte. Die inzwischen 59-Jährige sagt: "Es fiel mir nicht leicht, nach sieben Jahren wieder die Schulbank zu drücken und natürlich hatte ich auch Zweifel, das Kolleg erfolgreich abzuschließen." Vor allem die Unterstützung von Mitschülern und Lehrern habe ihr geholfen.

Die sozialen Kontakte waren auch für Rainer Berwanger zentral. "Meine wichtigsten Freunde stammen aus dieser Zeit", sagt er. Für Berwanger, einem ehemaligen Chemielaboranten aus Unterfranken, bedeutete der Besuch des Frankfurter Hessenkollegs "die perfekte Alternative: Abitur, elternunabhängiges Bafög und die Großstadt". Der 56-Jährige wurde Lehrer für Chemie, Politik und Wirtschaft. "Für mich persönlich war es eine Phase der Befreiung, vom Zwang zur Lohnarbeit und den Zwängen der Provinz", erinnert er sich.

Burkhard Wolf vom Bundesring der Kollegs kennt viele von diesen Erfolgsgeschichten, dennoch sei die Form des Kollegs vielen Menschen unbekannt, sagt er. Begründen kann er das nicht so recht. Schließlich haben sie den Mut aufgebracht und sich entschieden, nach mehreren Jahren in ihrem ersten gewählten Beruf eine neue Richtung einzuschlagen. Inspirierend dabei sei, dass alle schon etwas außerhalb der Schule erlebt haben, ehe sie nach längerer Zeit wieder Mathe- und Geschichtsbücher aufschlagen und beginnen ihre Bildungs- und Berufsbiografie umzuschreiben. Aber das spricht sich offenbar nicht weit genug rum.

In Zukunft Tablet-Klassen

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Rainer BerwangerFoto: Clemens Dörrenberg

Auch Gabriele Seelmann hat mit der geringen Bekanntheit ihrer Schule zu kämpfen. Seit gut einem Jahr leitet sie das Bayernkolleg in Schweinfurt. "Wir haben noch immer mit unserem Namen ein bisschen ein Problem", sagt sie. "Bayernkolleg verbinden alle komischerweise mit Telekolleg." Ähnlich wie beim Pendant im bayerischen Fernsehen stimme es zwar derzeit, dass der "Distanz-Unterricht" wegen der Covid-19-Pandemie via Bildschirm ablaufe, sagt Seelmann, dies habe aber gleichzeitig einen "Riesen-Fortschritt in der digitalen Entwicklung" zur Folge gehabt. Und das solle sich auch künftig positiv auf das Lernen auswirken. "Wir wollen im nächsten Jahr Tablet-Klassen im Unterricht einführen": Keine Hefte mehr, stattdessen sollen die Studierenden ihre Unterrichtseinträge im Tablet speichern. Daneben sei geplant, digitale "Kurs-Notizbücher" für alle Klassen anzulegen, auf die auch Studierende Zugriff haben, die mal nicht in die Schule kommen können. Seelmann denkt etwa an Eltern, die bei ihren kranken Kindern bleiben müssen.

Burkhard Wolf unterrichtet selbst am Saarland-Kolleg in Saarbrücken Mathe und Physik. Schon länger versuche sich seine Schule "ein bisschen digitaler" aufzustellen. Doch das brauche Zeit. Bereits vor zehn Jahren habe man erstmals mit den Vorläufern der Konferenz-Software "Microsoft Teams" experimentiert, die in Coronazeiten im Online-Unterricht regelmäßig eingesetzt werde. "Unsere Schüler und Lehrer haben seit Jahren alle eine Schul-E-Mail-Adresse, und die Kommunikation, außer das Persönliche, läuft über diese E-Mail", erklärt Wolf. Stunden- und Vertretungspläne würden beispielsweise darüber verschickt.

Besonders ist an Kollegs und vielleicht gleichzeitig ein Vorteil ihrer geringen Prominenz, dass es meist überschaubare Schulen mit kleinen Klassen sind wie in Schweinfurt. "Sehr familiär" sei das Schulklima dort mit 215 Studierenden, "wie ein kleines Uni-Institut", sagt Kollegleiterin Seelmann. 18 Studierende seien durchschnittlich in einer Klasse. Dennoch: "Die Nachfrage ließ bundesweit in den letzten Jahren nach", sagt Wolf. Die Kollegs bekämen Konkurrenz durch Schulen des ersten und zweiten Bildungsweges, die vermehrt Abitur anböten. "Außerdem gibt es mehr Möglichkeiten, auch ohne Abitur zu studieren", sagt Wolf und fügt hinzu: "Je besser die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist, desto eher bleiben die möglichen Kandidaten in ihrem Ausbildungsberuf."

INFOBOX

Eine Übersicht der meist staatlichen oder kirchlichen Kollegs, die häufig nach dem Bundesland oder nach der Stadt, in der sie sich befinden, benannt sind (in Baden-Württemberg: "Berufskollegs"), findet sich auf folgender Internetseite: bundesring.de

Dieser Link leitet derzeit zum Deutschen Bildungsserver des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung weiter, wo die Kollegs und weitere Möglichkeiten des Zweiten Bildungsweges aufgeführt sind, da die Internetseite des Bundesrings der Kollegs derzeit überarbeitet wird.

VORAUSSETZUNGEN:

Das Mindestalter beträgt 18 Jahre. Da-neben müssen Interessierte den Haupt- bzw. Realschulabschluss und eine abgeschlossene Berufsausbildung oder zweijährige Berufstätigkeit nachweisen können. Diese kann etwa durch Führen eines Familienhaushalts oder eines freiwilligen, sozialen Jahres belegt werden.

WEG UND DAUER:

Nach Eignungstests in Deutsch, Mathe und Englisch wird entschieden, ob der Weg zum Abi beginnt und wie lange er dauern wird. Üblich sind dreieinhalb Jahre, die mit einem halbjährigen Vorkurs anfangen. Dort werden nach gegebenenfalls länger zurückliegender Schulzeit Grundlagen vermittelt, um für den Stoff der Oberstufe fit zu sein.

ABI-ONLINE:

Einige Kollegs, etwa die "Weiterbildungskollegs" in Nordrhein-Westfalen sowie die "Erwachsenenschule" in Bremen bieten "Abi-Online" an. Mit einer internetgestützten Lernplattform gibt es eine "Distanz-Phase", bei der von zuhause aus gelernt wird, während eine "Präsenzphase" zwei- bis dreimal wöchentlich in der Schule stattfindet.