Ausgabe 03/2021
Slowaken auf Tahiti
Michal Hvorecky: Tahiti Utopia
Mitten im Pazifik, auf Tahiti, leben seit drei Generationen Slowaken. Der Grund: 1921 sind sie kollektiv ausgewandert, um unter Palmen noch einmal als Nation von vorne anzufangen. Denn in Europa wurden sie vom noch heute existierenden Großungarn unterdrückt und verfolgt. Mit diesem skurrilen Szenario ist dem slowakischen Schriftsteller Michal Hvorecky ein ironisches Plädoyer gegen Nationalismus geglückt. Denn wie sich herausstellt, bauen die Slowaken nach ihrem mühsamen Massenexodus auf Tahiti selbst einen nationalistischen Staat auf. Mit einem staatlichen propagandistischen Fernsehen. Eine Historikerin, die in ihrem neuen Roman davon erzählt, dass die Slowakei ein eigenständiger Staat in Europa sei, wird dort als Verräterin bezeichnet, und ihre Bücher werden verboten. Hvorecky fragt mit hintergründigem Witz zwischen den Zeilen: Kann man Heimat verpflanzen und ein ganzes Volk umsiedeln? Wird man im Exil freier und toleranter oder engstirniger? Eine schlaue politische Utopie, die die Geschichte auf den Kopf stellt. Nebenbei geht Hvorecky auch der Frage nach, wer über die Geschichtsschreibung bestimmt und wie Flüchtlingsbewegungen und Minderheitenrechte entstehen. Günter Keil
Tropen Verlag, ü: Mirko Kraetsch, 256 S., 20 €
Hanne Hippe: Die Geschichte einer unerhörten Frau
Bislang ist Hanne Hippe als Hörfunkautorin und mit Krimis erfolgreich, jetzt hat sie einen üppigen Roman vorgelegt, der bundesrepublikanische Geschichte zwischen 1945 und 1965 in einem durchaus exemplarischen Frauenleben spiegelt. Gussy Fink lässt sich nämlich trotz zweier kleiner Kinder von ihrem kriminellen, untreuen und dem Alkohol zugeneigten Mann scheiden und zieht von Frankfurt nach Köln. Ein in den 50ern unerhörter Vorgang, denn eine Frau ohne Mann gilt als schutzlos und ist Gegenstand hämischer Verachtung selbst der eigenen Verwandtschaft. Die eigentlich schüchterne junge Frau verdient ihren Lebensunterhalt als Putzfrau, wobei sie fast vergewaltigt wird – weiblicher Alltag. Während der geschiedene Gatte deutsch-deutsche Abenteuer erlebt, emanzipiert sich Gussy, versehrt von Krieg und Flucht aus Breslau und dem Verlust eines Kindes, mühsam, aber hartnäckig von diskriminierenden Konventionen, die man längst vergessen glaubt; verzichtet irgendwann sogar auf die obligatorische Dauerwelle. Hippe, Jahrgang 51, erinnert an Hosenverbote für Mädchen, streng getrennte evangelische und katholische Grundschulen, Zopfzwang im Klassenzimmer – aus eigenem Erleben und einem höchst differenzierten Erinnerungsvermögen. Dies ist keine Autobiografie, wenngleich die Autorin betont, dass die väterlichen Kapriolen keine Fiktion sind. Ein feiner humoristischer Unterton durchzieht die atmosphärisch ungemein authentische Geschichte, wozu vor allem Tochter Evas aufmüpfige Neugier beiträgt. Zu ihrer Zeit nannte man sie "vorwitzig", heute wäre sie mega cool – genau wie ihre unerhörte Mutter. Ulla Lessmann
Goldmann Verlag, 428 S., 20 €