Ausgabe 04/2021
Das große Schweigen
René Müller-Ferchland: Niemanns Kinder
In der Familie von Marta und Mateo liegt die Vergangenheit sorgfältig begraben. Warum die Geschwister aus Frankfurt an der Oder seit ihrer Geburt vor 16 Jahren mit Mutter und Tante, aber ohne ihren Vater in Berlin leben, diese Frage quält vor allem Marta. Das hartnäckige Schweigen der Mutter erlaubt ihr noch nicht einmal danach zu fragen. Ihr Bruder hingegen verdrängt den abwesenden Vater; er ist damit beschäftigt, vor Mutter und Tante zu verheimlichen, dass er in einen Jungen, in Finn verliebt ist. Der deshalb so tut, als sei er Martas Freund. Nein, von Offenheit kann bei den Niemanns wirklich keine Rede sein.
Marta versucht trotzdem, das belastende Familiengeheimnis zu lüften. Die einzige Spur zum Vater ist ein gelbes Notizbuch. Darin hatte er kurz nach ihrer Geburt etwas für sie aufgeschrieben. Seine Aufzeichnungen sind oft kryptisch, fragmentarisch und rätselhaft. Es gibt Angefangenes, Durchgestrichenes, Verbessertes – Geschriebenes am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Nur zweierlei wird darin deutlich: Der durch die Geburt seiner Kinder getriggerte junge Vater verstand damals die Welt selbst nicht mehr und glitt zusehends tiefer hinab in eine unerklärliche Verzweiflung.
Der 30-jährige Erfurter Autor Müller-Ferchland hat seinen zweiten Roman formal sehr kunstvoll aufgebaut, und der junge Erfurter Verlag Proof unterstützt das mit der sorgfältigen Gestaltung des Buches. Martas Lektüre des gelben Notizbuchs ist auch typographisch eine fesselnde Spurensuche; sie selbst hat die Angewohnheit, ihre Gedanken in eine türkisfarbene Kladde zu zeichnen. Einband und Umschlag spiegeln diesen seltsamen Dialog zwischen dem abwesenden Vater und der suchenden Tochter. Das Buch selbst ist gelb, der Umschlag türkis.
Ein realer Fall aus der Stadt Frankfurt an der Oder Anfang der 90er Jahre und die mediale Erfahrung des Bosnienkriegs haben Müller-Ferchland zu diesem Roman inspiriert. Er geht der Frage nach den Folgen für die Betroffenen nach und zeichnet die verheerende Wirkung des entsetzten – wenn auch verständlichen – Schweigens über Unaussprechliches für die nächste Generation nach. Auch das Soziotop einer Plattenbausiedlung spielt eine entscheidende Rolle in der spannenden Auflösung dieser dramatischen Familiengeschichte.
Jenny Mansch
Proof Verlag 2021, 177 S., 14,90 €
Myriane Angelowski: Jenseits des Rheins
wenn alle Fäden gesponnen, alle Spuren aufgeklärt und der Mörder entlarvt ist, kann man die allermeisten Krimis schnell wieder vergessen. Mit Jenseits des Rheins der Kölner Autorin Myriane Angelowski ist das anders: Da bleibt man traurig und grübelnd zurück – wie konnte all das passieren, welche unheilvolle Dynamik wurde da von wem losgetreten, die dann so grausam endet? Der 14-jährige Lenni mag sich nicht für ein Geschlecht entscheiden, schminkt sich, kleidet sich genderübergreifend und wird prompt zum Lieblingsopfer dreier Klassenkameraden, die ihn abzocken, körperlich und seelisch quälen, demütigen und erpressen. Lenni muss lügen, betrügen und stehlen, weiß weder ein noch aus und verschwindet. Wie die Autorin auf zwei Zeitebenen die Hetzjagd der Mobber auf den Jungen, die Suche der verzweifelten Mutter, die Ratlosigkeit der gestressten Kommissarinnen und die unheimliche Puppenliebe von Lennis einzigem Freund beschreibt, ist schlicht großartig. Angelowski ist bekanntermaßen eine Meisterin der präzisen Charakterzeichnung und sie hat eine Haltung zu den Verwerfungen, die unsere Gesellschaft hervorbringt. Sie guckt hin: in kaputte Beziehungen, soziale und seelische Verwahrlosung, unbarmherzige Ausgrenzung, Einsamkeit und Ausweglosigkeit. Dass Lennis Vater sich gleich zwei Familien leistet und letztlich beide zerstört, passt ins traurige Bild. Am Ende haben alle verloren.
Ulla Lessmann
Emons, 272 S., 13 €
Friedrich Ani: Letzte Ehre
ariza Nasri, die Oberkommissarin mit bayerisch-arabischen Wurzeln, ist eine der faszinierendsten neuen Charaktere auf dem Krimi-Buchmarkt. Die Münchnerin überzeugt als Beobachterin und Zuhörerin, und ihre Gabe, auch tief in Abgründe zu blicken, machen sie zu einer großartigen Ermittlerin. Denn sie erkennt auch die Widersprüche und Lügen der Täter. Zunächst recherchiert Nasri im Fall eines verschwundenen Mädchens. Die 17-jährige Finja ist nach einer Party verschwunden. Der Freund von Finjas Mutter kommt der Kommissarin verdächtig vor, doch seine Vernehmung erbringt keine Beweise. Dann stößt Nasri auf eine ältere Frau, die vom Vater des Verdächtigen früher missbraucht wurde. Schließlich wird auch noch Nasris beste Freundin mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert – gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen drei Fällen? Obwohl sich Friedrich Ani auf nur 270 Seiten beschränkt, entwirft er ein vielschichtiges, dunkles Drama, das eine fast unerträgliche Spannung entfacht. Ein brillanter Roman und Krimi über toxische Männlichkeit und Gewalt an Frauen, getragen von einer bemerkenswerten Hauptfigur und Anis kunstvollem Stil, der in den nahezu lyrischen Selbstgesprächen Fariza Nasris immer wieder seine Höhepunkte findet.
Günter Keil
Suhrkamp, 270 S., 22 €