Ausgabe 04/2021
Im Epizentrum der Gewalt
In den Straßen von Cali, Kolumbiens drittgrößter Stadt, herrscht in diesen Tagen ein dystopisches Gefühl. Die Spuren der Proteste, die das Land seit Wochen in Atem halten, sind überall sichtbar. Mehrere Busbahnhöfe sind nur noch ausgebrannte Hüllen. Im Osten der Stadt haben Demonstrant*innen im Viertel Puerto Rellena eine große Kreuzung besetzt und in "Puerto Resistencia", Hafen des Widerstandes, umgetauft. Straßensperren aus Autoreifen, Mülltonnen und anderen Gerätschaften wurden errichtet, Zelte aus Planen sind zu sehen, über der Straße hängen selbstbemalte Banner. Auf dem Asphalt erinnern Kerzen an die Opfer der Polizeigewalt.
Cali ist das Epizentrum der Proteste, die am 28. April begannen, als Reaktion auf die von Präsident Iván Duque vorgelegte Steuerreform. Die hätte die arbeitende Klasse besonders getroffen. Trotz Rücknahme des Gesetzentwurfs am 2. Mai und dem Rücktritt von Finanzminister Alberto Carrasquilla am folgenden Tag, sind die Menschen auch nach mehr als einem Monat noch immer auf der Straße.
Von der Wucht überrascht
"Der nationale Streik ist die Fortsetzung der Proteste vom November 2019", sagt Carlos Ernesto Castañeda, Arbeitsrechtsanwalt und früherer Vorsitzender der Öffentliche Dienst-Gewerkschaft UNIDAS und des Gewerkschaftsverbandes CUT (Central Unitaria de Trabajadores). "Damals schon gab es eine starke Mobilisierung. Es war der erste Ausdruck der Unzufriedenheit der Bevölkerung." Dann kam die Pandemie. Kolumbien verhängte einen langen Lockdown und die Mobilisierung fand ein vorläufiges Ende. Die wirtschaftlichen Probleme aber verschlimmerten sich für einen Großteil der Kolumbianer*innen. Adäquate soziale Hilfsprogramme blieben aus, sagt Castañeda. Das habe die Menschen Ende April gegen die Steuerreform aufgebracht, begleitet von der Forderung nach einem Grundeinkommen. "Die Regierung wurde von der Wucht der Demonstration völlig überrascht."
Tatsächlich scheint es, als hätten die Regierung und mit ihr ein Großteil der politischen Elite des Landes die Ursachen und Tragweite der Proteste nicht erkannt. "Die Steuerreform war eine Provokation gegen die Armen", sagt Marcio Monzane, Regionalsekretär für Amerika des globalen Gewerkschaftsverbandes UNI, dem auch zahlreiche kolumbianische Gewerkschaften angehören. Von Montevideo aus verfolgt er die Ereignisse in Kolumbien. "Über die Steuerreform hinaus sind die Leute in Kolumbien der schlechten Politik und der fehlenden Unterstützung durch die Regierung müde."
Dabei galt Kolumbien trotz jahrzehntelangem Bürgerkrieg lange Jahre als eines der wirtschaftlich und politisch stabilsten Länder Lateinamerikas. Jedoch eines mit extremer Ungleichheit. Einer kleinen, mächtigen Oberschicht stehen Millionen Arme und informell Beschäftigte gegenüber. "Die Pandemie hat die Probleme verschärft: die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer, die Ungleichheit vergrößert sich", so Monzane.
Und so geht es den demonstrierenden Gewerkschaften, Studierendenvertretungen, Indigenen, Frauenrechtler*innen und anderen neben einem Grundeinkommen längst um mehr: eine Reform des Gesundheitswesens, besseren Zugang zu Bildung, mehr Umweltschutz, mehr Rechte für Indigene.
Die Antwort: Armee und Polizei
Die Regierung antwortet mit dem Einsatz von Polizei und Armee. "Es ist offensichtlich, dass der Staat anstatt des Dialogs den Weg der Gewalt gewählt hat", erklärt Castañeda. "Die Strategie besteht darin, dass die Menschen müde werden, sich mit den Ordnungskräften des Landes auseinanderzusetzen, die absolut gewalttätig sind."
"Es muss einen tiefgreifenden Wandel geben. Die kolumbianische Bevölkerung macht das nicht mehr mit, die soziale Ungleichheit, die Korruption, die staatliche Gewalt. Die neoliberale Politik hat ausgedient."
Gewerkschaftsführerin María Clara Baquero
Laut der NGO Indepaz wurden bis zum 31. Mai bei den Protesten mindestens 71 Menschen getötet – der überwiegende Teil nachweislich durch den Einsatz scharfer Munition durch Polizei und Armee. Hunderte wurden verletzt und verhaftet; mindestens 346 Menschen sind "verschwunden". Bis Anfang Juni wurden 3.789 Fälle von Polizeigewalt gemeldet, aber Präsident Duque sagt, "der Missbrauch ist nicht systematisch".
Genau das aber wirft Castañeda der Regierung vor. "Es handelt sich nicht einfach um die Verfehlungen Einzelner, sondern hier zeigt sich systematisch eine Politik des Staates, die darauf abzielt, Angst und Schrecken in der Bevölkerung zu verbreiten." Monzane verweist auf den gezielten Einsatz physischer Gewalt gegen Frauen. "Es gibt zahlreiche dokumentierte Situationen sexualisierter Gewalt durch die Polizei gegen Frauen, die an den Protesten teilnehmen. Die Regierung versucht einmal mehr, die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften, das Streikkomitee, die protestierenden Jugendlichen zu kriminalisieren."
Bei aller Fokussierung auf die exzessive Gewalt gegen die Demonstrierenden, wird schnell vergessen, dass sich der kolumbianische Staat seit Jahrzehnten im Krieg mit der Linken, den Arbeiter- und Bauernorganisationen und den sozialen Bewegungen befindet. Als Rechtfertigung der Gewalt dient der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt. Auch jetzt rechtfertigt die Regierung ihren gewalttätigen Einsatz gegen die Protestierenden damit, die Proteste seien von der Guerilla unterwandert.
Zielscheibe Gewerkschaften
Die Gewerkschaftsführerin María Clara Baquero, von Anfang an aktiv bei den Protesten dabei, hat dies am eigenen Leib erfahren. Als Präsidentin der Gewerkschaft Asodefensa vertritt sie die zivilen Beschäftigten des kolumbianischen Verteidigungsministeriums – einschließlich Streitkräften und Bundespolizei. Wegen ihrer Gewerkschaftsarbeit erhält sie anonyme Drohungen, immer wieder ist sie das Ziel von Angriffen. "Seit Jahren bin ich im Fokus von Paramilitärs. Seit Jahren habe ich Personenschutz. Und trotzdem wurden drei Attentate auf mich verübt." Eines überlebte sie nur schwerverletzt. Ihr damals minderjähriger Sohn musste vor einigen Jahren Kolumbien verlassen, weil er wegen der Gewerkschaftsarbeit seiner Mutter "mit dem Tod bedroht wurde".
"In Kolumbien gibt es eine lange Geschichte der Kriminalisierung der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Allein im vergangenen Jahr wurden 1.000 soziale Aktivisten durch rechte Paramilitärs getötet", sagt Monzane. "Wir haben schon vor dem Streik gesagt: Es gibt ein Gewaltproblem in Kolumbien. Es geht nicht nur darum, das Problem der Gewalt durch die Sicherheitskräfte während des Streiks zu lösen; das System systematischer Aggression durch die Regierung gegen die Gesellschaft und soziale Bewegungen muss verändert werden."
Seit den frühen 2000er Jahren, als die Aufstandsbekämpfung zum Kernstück der damaligen Regierung Álvaro Uribe wurde, ist der staatlich gelenkte Terrorismus in Form von Paramilitärs die Methode der Wahl, um Kolumbiens wachsende Ungleichheit und die durch den Neoliberalismus verursachte soziale Desintegration zu bewältigen. Die Gewalt richtet sich gegen all diejenigen, die sich auflehnen. "Für die Rechte und die extreme Rechte in diesem Land war es leicht, den Neoliberalismus durchzusetzen, weil jeder Akt des Protests in der jüngeren Geschichte des Landes beschuldigt wurde, mit dunklen Kräften, mit der Guerilla, verbunden zu sein. Und heute ist dieser Karren aus dem Dreck gezogen worden, weil es ein Friedensabkommen mit der größten Guerilla, der FARC, gibt", sagt Castañeda. Tatsächlich hat sich mit dem 2016 mit der FARC-Guerrilla geschlossenen Friedensvertrag ein politischer Raum aufgetan.
"Es muss einen tiefgreifenden Wandel geben", sagt Baquero. "Die kolumbianische Bevölkerung macht das nicht mehr mit, die soziale Ungleichheit, die Korruption, die staatliche Gewalt. Die neoliberale Politik hat ausgedient."
Ob die Proteste auch der Gewerkschaftsbewegung Schwung verleihen können, wird sich zeigen. Nur 4,5 Prozent der kolumbianischen Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert, was auch mit dem großen informellen Sektor zusammenhängt. Castañeda ist dennoch zuversichtlich. "Der Protest ist da wegen des Bedürfnisses nach Veränderung. Aber um politisch Erfolg zu haben, erfordert der Protest auch eine Organisation, um Auflösung und Auseinanderdividieren zu vermeiden und eine größere Konzentration der Kräfte zu erreichen. Dies ist eine sehr wichtige Gelegenheit für die Gewerkschaftsbewegung, wenn sie es versteht, den Moment zu nutzen, um zu wachsen."