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Foto: Christian Jungeblodt

Betriebs- und Personalräte aus 140 öffentlichen und privaten Nahverkehrsunternehmen haben im Frühsommer Alarm geschlagen. "Ohne den Ausbau des ÖPNV sind die Klimaziele im Verkehrssektor nicht erreichbar", schrieben sie Anfang Juni in einem Brandbrief an die Politik. Die Bundesregierung dürfe "die Kommunen mit dieser Verantwortung bei der öffentlichen Mobilität nicht allein lassen".

Die Lage ist ernst. Aber auch nicht hoffnungslos, das sagt ver.di schon länger. Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) bietet die Chance, die seit 1990 nicht gesunkenen CO₂-Emissionen im Verkehr deutlich zu verringern und die Klimaziele einzuhalten. Selbst Bund und Länder wollen die Fahrgastzahlen im ÖPNV bis 2030 verdoppeln. Die Frage ist nur wie? "Die Mobilitätswende kann nur gelingen, wenn die Politik handelt", sagt die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle – und hat dabei die bevorstehende Bundestagswahl im Blick.

Der ÖPNV ist das Rückgrat der angestrebten Verkehrswende. Deshalb muss, so ver.di, wesentlich mehr Geld hineinfließen, denn Betriebe und Kommunen können das nicht alleine stemmen. Für den Ausbau des Angebots und das dafür erforderliche Personal rechnet ver.di bis 2030 mit etwa zehn bis zwölf Milliarden Euro pro Jahr, gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten eingeschlossen.

Allein im kommunalen ÖPNV gibt es mittlerweile einen Investitionsstau von mehreren Milliarden Euro. Zudem fehlen den Verkehrsunternehmen schon heute 15.000 Beschäftigte. Behle schätzt, dass es bis 2030 allein aufgrund der Altersstruktur der Branche an die 100.000 sein werden. Und: Die teilweise prekären Arbeits- und Entlohnungsbedingungen bei Bussen und Bahnen schreckten viele potentielle Bewerber*innen ab. Das müsse sich dringend ändern, fordert ver.di.

Corona hat die Lage weiter zugespitzt. Für die Jahre 2020 und 2021, so die Schätzungen des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), werden die Verkehrsunternehmen auf Straße und Schiene voraussichtlich Einnahmenverluste in einer Höhe von insgesamt 6,9 Milliarden Euro verkraften müssen. Die Kommunen brauchen einen finanziellen Ausgleich, sonst besteht die Gefahr, dass sie in diesem oder in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge drastisch kürzen müssen. Zwar haben Bund und Länder für 2020 und 2021 bereits einen Rettungsschirm für den ÖPNV beschlossen. Der muss nach Ansicht ver.dis jedoch auch 2022 noch aufgespannt bleiben.

Die Verkehrswende erfordert neue Antriebssysteme, weg vom Verbrennungsmotor. Stadt und Land müssen durch verdichtete Taktzeiten besser vernetzt werden, kleinere Zubringer machen den ÖPNV attraktiver. Diese andere Verkehrskultur soll zu einer höheren Lebensqualität führen. All das wird ohne zusätzliche Mittel und Umverteilung der vorhandenen nicht möglich sein. Und ohne zusätzliche öffentliche Kredite wird es auch nicht gehen. Doch der ÖPNV hat einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen. Jeder Euro, der hier eingesetzt wird, kommt langfristig drei- bis vierfach zurück, rechnet der VDV bereits heute vor.

Was vielen nützt, sollte von vielen getragen werden. In zwei Bündnissen setzt sich ver.di daher für eine sozial und ökologisch nachhaltige Verkehrswende ein. Initiiert vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) begründete ver.di im April mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der IG Metall, mit großen Sozialverbänden, Umweltorganisationen und der Evangelischen Kirche ein breites Bündnis für eine sozial- und klimaverträgliche Mobilitätswende. "Die Mobilitätswende hat das Zeug, als Gewinnergeschichte in die gesellschaftlichen Umbrüche des 21. Jahrhunderts einzugehen", ist der Präsident des NABU, Jörg-Andreas Krüger, überzeugt. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, will Städte und Dörfer verändern, will mehr barrierefreie Bahnhöfe, Platz für Kinderwagen und Rollatoren auf den Gehwegen und Car-Sharing-Angebote auch auf dem Land.

"Ein erster Schritt wäre klimaschonendes Mobilitätsverhalten", sagt Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbandes Deutschland (SoVD). Für DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell muss diese Transformation "untrennbar mit sozialer Sicherheit und guter Arbeit" vonstatten gehen. Christine Behle möchte mit dem Ausbau des ÖPNV eine Verkehrswende ins Rollen bringen, von der am Ende "Umwelt, Beschäftigte und die Nutzer*innen profitieren". Derzeit komme der soziale Ausgleich bei den Bemühungen um mehr Klimaschutz "viel zu kurz".

Parallel dazu hat ver.di mit Partner*innen wie dem BUND, Fridays for Future und attac Druck auf die Politik gemacht. Die Forderung dieses zweiten Bündnisses nach einem bundesweiten Verkehrsgipfel wurde Anfang Juni bereits umgesetzt. Mit Verkehrsminister*innen aus verschiedenen Bundesländern, aber auch mit Vertreter*innen des Deutschen Städtetages und des VDV tauschten sich ver.di, BUND, Verkehrsclub Deutschland (VCD) und Fridays for Future erstmals aus. Nur der Bund fehlte.

Alle Teilnehmer*innen waren sich einig, dass das ÖPNV-Angebot nicht nur aufrechterhalten, sondern massiv ausgebaut werden muss. In der Folge forderten die Verkehrsminister*innen der Länder auf einer Sondersitzung Ende Juni, die Mittel für den ÖPNV jährlich zusätzlich um 1,5 Milliarden Euro zu dynamisieren. Und das verlangen sie auch von der neuen Bundesregierung. "Wir brauchen dieses Geld", bekräftigte etwa NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst, CDU.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, CSU, hat die Forderung hingegen sofort abgeblockt. Die von den Ländern geforderten Summen bezeichnete er als "völlig unrealistisch". Massive Schulden zulasten des Bundes "wären unverantwortlich".

Von "nie dagewesenen Herausforderungen" hatten die Betriebs- und Personalräte in ihrem Brandbrief geschrieben. Diese sind real. Eine tatsächliche Mobilitätswende mit integrierter Verkehrspolitik wird viel Kraft und Geld kosten. Dafür braucht es weiterhin Druck von vielen auf die künftige Bundespolitik. Und die muss einen Gang zulegen.

Positionen des Bündnisses

Das Bündnis "Sozialverträgliche Mobilitätswende" hat gemeinsam mit Expert*innen Positionen und Diskussionsvorschläge erarbeitet, die es in einer Broschüre vorstellt. Sie kann unter verkehr.verdi.de/branchen/busse-und-bahnen heruntergeladen werden.

Am 2. September findet von 16 bis 18 Uhr online ein Politik-Dialog des Bündnisses statt. Anmeldungen sind bis zum 26. August möglich unter nabu.de/buendnis-mobilitaetswende

Forderungen von ver.di

Um die Klimaziele erreichen zu können, müssen die Fahrgastzahlen im ÖPNV bis 2030 verdoppelt und gleichzeitig der Autoverkehr reduziert werden. Das bedeutet Ausbau der ÖPNV-Kapazitäten, Taktverdichtung und bessere Anbindungen in Stadt und Land, aber auch die Einstellung von zusätzlichen 70.000 Fachkräften bis 2030 allein für den dafür notwendigen Ausbau der Kapazitäten.

Die bisherige Unterfinanzierung des ÖPNV muss beendet werden. Modernisierung und Ausbau der Infrastruktur sowie die Betriebskosten sind nachhaltig zu sichern.

Wir brauchen eine Investitionsoffensive für das Personal und die Weiterbildung. Arbeitsbelastungen müssen reduziert und finanzielle Anreize geschaffen werden.

Um Ausbau und den Betrieb sicherzustellen, müssen bis 2030 jährlich etwa zehn bis zwölf Milliarden Euro bereitgestellt werden. Die Finanzierung aus Steuergeldern ist zu erhöhen und kann nicht den Kommunen überlassen werden.