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Eugene McCabe: Tod und Nachtigallen

Ein Tag im Mai 1883. An ihm entfaltet sich die Handlung dieses vielschichtigen Romans von 1992, der im Sommer neu aufgelegt wurde. In der Ulster-Provinz Fermanagh ist Beth Winters die Einzige, die vom Gebrüll einer aufgeblähten Kuh erwacht und unerschrocken zur Tat schreitet, während die Männer des Hofes noch ihren Rausch ausschlafen. Noch vor Morgengrauen greift sie sich eine Kanüle und durchquert den Gutshof ihres protestantischen Stiefvaters und Steinbruchbesitzers Billy Winters. Unter dem Gesang und Geflatter früher Vogelscharen läuft sie über Stock und Stein ihrer geliebten irischen Felder, um die unglückliche Kuh durch einen beherzten Stich in den Leib von ihren Gasen zu befreien. Keine schöne Aufgabe an ihrem 25. Geburtstag, den sie eigentlich ganz genau geplant hatte. Es ist der Tag, an dem sie sich am Stiefvater rächen und ihn samt Heim und Hof verlassen will, so sehr sie auch an dem Ort ihrer Kindheit hängt. Denn Beth ist nachtragend, wie alle in diesem zornigen Land. Und sie hat sich in den Pächter ihres übergriffigen Stiefvaters verliebt und will am Abend mit ihm durchbrennen.

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Ihre katholische Mutter ist seit Jahren tot; geblieben ist der Tochter die Erinnerung an endlose Streitereien des ungleichen Ehepaars. Nie konnte Billy verwinden, dass ihm Beth als Tochter untergejubelt worden war, obwohl er sie eigentlich liebt. In dieser vermurksten Familienaufstellung verdichtet Autor Eugene McCabe das ganze irische Drama um die bis heute unüberbrückbaren Verwerfungen des Landes: Landraub, Pachtwucher, Verdrängung, Hunger, Suff, Rache und Rebellen. Die Handlung spielt kurz nach dem ersten terroristischen Anschlag durch irische Nationalisten auf einen vermeintlichen Verräter der republikanischen Sache und nur kurz nach den sogenannten Landkriegen. Bauern rangen um halbwegs humane Bedingungen, doch blieb es bei den hohen Pachtzinsen, von denen die ausgemergelten Pächter ebenso gut auswandern konnten. Spitzel sowohl der britischen Geheimdienste als auch der Kirche spalteten das Land bis hinein in die Familien.

Neben intensiven Natur-und Landschaftsbeschreibungen hat der 2020 verstorbene Dramatiker McCabe mit Beth Winters eine weibliche Hauptfigur erschaffen, die die Liebe nicht blind macht, sondern stark; die Opferrolle ist ihre Sache jedenfalls nicht. Das zeigt sich vor allem im radikalen Finale dieser Geschichte. Der nüchterne Stil packt einen ganz subtil am Kragen und zieht die Leser mit sich in die Abgründe menschlichen Miteinanders, wo schließlich niemand mehr in der Lage ist, dem anderen wirklich zu verzeihen. Jenny Mansch

Steidl Pocket, 281 Seiten, aus dem englischen von Hans-Christian Oeser, 16,80 Euro

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Afonso Reis Cabral: Aber wir lieben dich

Diese Ecken von Porto zeigt kein anderer Roman, und diese Portugiesen tauchen nur selten in der Literatur auf: Die Handlung spielt in Bauruinen und verlassenen Parkhäusern, wo sich die Außenseiter treffen; Kinder aus prekären Schichten, Drogenabhängige, und eine transsexuelle Frau. Gisberta heißt die ehemalige Tänzerin und Prostituierte. Sie haust in einer Kellerbaracke und ist schwer krank. Rafa, ein Junge aus einem Kinderheim, entdeckt Gisberta und fühlt sich auf eine seltsame, beunruhigende Art zu ihr hingezogen. Fortan bringt er ihr Essen und staunt über ihre Erzählungen von früher. Inmitten von Armut und Hoffnungslosigkeit entsteht zwischen Rafa und Gisberta eine Freundschaft, die jedoch ein brutales Ende findet. Afonso Reis Cabral erzählt mit wilder Zärtlichkeit von Figuren am Rand der Gesellschaft. Eine bewegende Milieustudie nach einem wahren Fall, die in eine arme und raue Welt führt, in der sich die Menschen jedoch genauso nach Wertschätzung sehnen wie überall sonst. Dieser Roman wurde 2019 mit dem wichtigsten portugiesischen Literaturpreis ausgezeichnet. Günter Keil

HANSER VERLAG 2021, Ü: VON MICHAEL KEGLER, 304 S., 24 €

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Doris Knecht: Die Nachricht

Sie kommen ohne Vorwarnung, ohne Verdacht: Ruth erhält übers Handy anonyme Nachrichten – irgendjemand beschimpft und belästigt sie. Der oder die Täter*in kennt die Wiener Drehbuchautorin offenbar ganz genau, denn in den Nachrichten stehen intime Details über die Affäre ihres verstorbenen Mannes Ludwig, über ihren neuen Liebhaber Simon, über die Kinder ihrer Patchworkfamilie. Als die Verleumdungen auch im Freundeskreis und bei Arbeitskolleginnen eintreffen, steht Ruths komplettes Leben auf dem Spiel. Wer steckt nur dahinter, wer möchte sie fertigmachen? Ruths Recherchen führen bis kurz vor dem Schluss ins Nichts. Was Ruth darüber hinaus nervt: Alle haben Mitleid mit ihr. Doch sie will kein Mitleid, sondern ganz allein wieder rauskommen aus der Trauer über Ludwigs Tod und dem Schock über die anonymen Nachrichten. Auf ihre On/Off-Beziehung mit Simon, einem Kinderpsychologen, kann sich Ruth ohnehin nicht verlassen. Doris Knecht hat einen starken Roman über Cyberstalking geschrieben, eine raffinierte Geschichte über digitale Gewalt und über eine moderne Patchworkfamilie. Knechts Sprache kommt lässig, bisweilen mit feiner Ironie daher, und sie führt durch ein dichtes, intensives Drama. Günter Keil

Hanser Berlin 2021, 256 S., 22 €