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Trotz Ausgangssperre gingen Ende Juli nach Auflösung des Parlaments zehntausende Tunesier*innen auf die StraßeFoto: Fauque/picture alliance/abaca

Die 10 Jahre junge Demokratie in Tunesien, im ­Geburtsland des arabischen Frühlings, durchläuft eine schwere ­Krise. Seit dem 25. Juli regiert Präsident Kais Saied per Dekret. Er entließ die Regierung des parteiunabhängigen Ministerpräsidenten Hichem Mechichi, enthob das Parlament seiner Funktionen und setzte die Immunität der Abgeordneten außer Kraft. Die Begründung: „Der Schutz der nationalen Einheit.“

Kritische Stimmen wurden nur wenige laut. „Alle Räder des Staates waren blockiert. Das Parlament verabschiedete schon lange keine Gesetze mehr. Der ­Regierung fehlten Minister, weil der Präsident der Republik sich weigerte, korruptionsverdächtigen Politikern den Eid abzunehmen. Wir mussten aus dieser Blockade herauskommen. Die Initiative des Präsidenten wurde deshalb von vielen Tunesiern als Erleichterung aufgefasst und als Rettungsaktion gesehen“, sagt Sihem Bensedrine. Bensedrine ist eine bekannte Oppositionelle aus den Zeiten der 2011 gestürzten Ben-Ali-Diktatur und Vorsitzende der Wahrheitskommission (IVD), die nach der Revolution die Menschenrechtsverletzungen untersucht hatte.

In nur zehn Jahren hatte Tunesien neun Ministerpräsidenten. Die Parteienlandschaft splitterte sich immer weiter auf. Das gilt vor allem für den Block der nichtreligiösen politischen Kräfte. Die einzige stabile Partei ist die islamistische Ennahda. Deren Parteichef Rachid Ghanouchi war bis zum 25. Juli Parlamentspräsident und lieferte sich mit Staatschef Saied ­einen ständigen Machtkampf, anstatt das Parlament zu führen.

Der Jubel verhallt

Nur wenige Stunden bevor Saied die Macht an sich riss, waren überall im Land die Menschen auf die Straßen gegangen, um angesichts des politischen Versagens inmitten der Covid-Krise die Auflösung des Parlaments zu fordern. Nach der Fernsehansprache, in der der Staatschef seine Maßnahmen ankündigte, kam es trotz Ausgangssperre zu Jubeldemonstrationen. Doch die mit der Auflösung des Parlaments verbundenen Hoffnungen auf eine Verbesserung der sozialen Lage erfüllten sich nicht. Zehn Jahre nach der Revolution liegt die Jugendarbeitslosigkeit noch immer bei über 40 Prozent. Der Mindestlohn beträgt umgerechnet 130 Euro, und das in einem Land, in dem eine vierköpfige Familie laut einer ­internationalen, von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten Studie, monatlich 750 Euro zum Leben benötigt.

Der 63-jährige Jurist Saied, der 2019 mit 70 Prozent der Stimmen an die Staatsspitze gewählt wurde, versprach binnen 30 Tagen eine neue Regierung zu bestellen, die dann endlich die Probleme des Landes in Angriff nehmen würde. Doch die Frist ist verstrichen und nichts ist geschehen. Saied regiert weiter per Dekret. Denjenigen, die einen Weg zurück zur parlamentarischen Demokratie fordern, empfiehlt Saied zynisch ein „Erdkundebuch“ zur Hand zu nehmen. „Selbst wenn die Armee die Macht an sich genommen hätte, hätten die Menschen gejubelt“, sagt Mustapha Ben ­Ahmed. Der 67-Jährige ist Abgeordneter einer kleinen, weltlich gesinnten Partei im tunesischen Parlament und war lange Jahre im Vorstand der mächtigsten Gewerkschaft des Landes, der Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT). Und auch wenn Ben Ahmed im Juli der Machtübernahme durch den Präsidenten durchaus wohlwollend gegenüberstand, ist er mittlerweile enttäuscht. „Der Präsident hat keinen Plan vorgelegt, wie es weitergehen soll.“

Hoffen auf die Zivilgesellschaft

Auch Bensedrine klagt an: „Die von Saied angekündigte und mit großer Befriedigung aufgenommene Korruptionsbekämpfung hat nicht wirklich die große Korruptionslobby getroffen, sondern paradoxerweise die Institutionen zur ­Bekämpfung der Korruption.“ So wurde etwa der ehemalige Vorsitzende der von der Europäischen Union unterstützte Antikorruptionsbehörde INLUCC unter Hausarrest gestellt, die Büros geschlossen. Auch gegen Bensedrines IVD wurden drei Verfahren in Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Berichtes über Korruptionsfälle eingeleitet. Bensedrine befürchtet „eine Rückkehr zum Autoritarismus“ und „hofft auf die Wachsamkeit der Zivilgesellschaft“.

Dort hat vor allem die Gewerkschaft UGTT, mit 800.000 Mitgliedern bei 11 Millionen Einwohnern, ein großes ­Gewicht. Auch wenn sich der UGTT-Vorstand bisher weitgehend bedeckt gibt, besteht kein Zweifel daran, dass die mächtige Gewerkschaft einmal mehr, wie bereits in den Jahren des Übergangs zur Demokratie, im Hintergrund tätig ist, um eine Lösung zu finden. In einer der wenigen Stellungnahmen dieser Tage erklärt der stellvertretende UGTT-Generalsekretär Sami Tahri, es könne keinen Weg zurück vor den 25. Juli geben. Er fordert Präsident Saied auf, eine „Regierung der nationalen Rettung aus Technokraten“ einzusetzen.

Saied reagierte nicht darauf. Dabei gibt es nur wenige Alternativen zu einer solchen Regierung. Ein anderer Ausweg, den der Staatschef anstreben könnte, sind vorgezogene Neuwahlen. Doch ­ohne ein neues Wahlgesetz wäre ein ­neues Parlament vermutlich genauso zersplittert wie das alte.

Bleibt die Möglichkeit, die Verfassung per Referendum zu ändern. Doch das würde sicher soziale Konflikte auslösen. Nach dem Sturz Ben Alis gaben sich die Tunesier*innen eine Verfassung, die die Macht – ähnlich wie etwa in Portugal – zwischen Parlament und Präsident aufteilt. Saied wird nachgesagt, er sei ein Verfechter eines Systems mit einem starken Staatspräsidenten wie in Frankreich. Wohin so etwas in der arabischen Welt führen kann, erlebten die Tunesier*innen unter Ben Ali am eigenen Leib.