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Una Mannion: Licht zwischen den Bäumen

Auf welche Weise eine Familie als Verbund an ihr natürliches Ende gelangt, um sich später neu wieder zusammenfügen zu können, kann ganz unterschiedlich verlaufen. Meist setzt dieser Prozess mit dem Auszug eines Kindes ein. Auch Tod oder Trennung lassen nichts, wie es mal war. Die 15-jährige Libby und ihre vier Geschwister erleben all dies Schlag auf Schlag und bleiben, als der Vater stirbt, mit der überforderten Mutter zurück. Sie ist auf jeder Seite dieses Romans präsent und doch nur zu Beginn wirklich anwesend.

Am Abend vor den Sommerferien fährt sie ihre Kinder von der Schule nach Hause. Nach einem Streit setzt die Mutter zum Schrecken der Geschwister die zwölfjährige Ellen in der Dämmerung an der Straße aus. Die Folgen dieser Kurzschlussreaktion sind dramatisch und werden aus der Sicht der überbesorgten Libby erzählt, die gern im Wald nach Klarheit sucht, ihn aber buchstäblich vor lauter Bäumen nicht sieht. Und alles noch viel schlimmer macht. Spannend verknüpft die amerikanisch-irische Autorin hier Entwicklungsroman mit literarischem Thriller und taucht ein in die verqueren Welten von Teenagern und Pflanzen – wo nichts so ist, wie es zunächst erscheint. Jenny Mansch

STEIDL 2021, Ü: TANJA HANDELS, 344 S., 24 €

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Kathleen Winter: Sein Name war Annabel

Ein Baby mit den Geschlechtsmerkmalen von Frau und Mann – das ist 1968 in der kanadischen Kleinstadt Croydon Harbour ein Schock. Vor allem für Jacinta und Treadway, das Elternpaar. Die Mutter und ihre beste Freundin wollen das Kind Annabel nennen, denn sie sehen in ihm ein Mädchen. Doch der Vater besteht darauf, ihm den Namen Wayne zu geben. Wayne soll Jagen und Fischen lernen, Holzfällen und Hausbauen. Doch die traditionelle männliche Rolle bleibt Wayne fremd. Er begeistert sich für Kleider, entwickelt einen eher sanften Charakter und später beginnen seine Brüste zu wachsen. Trotzdem nimmt er Medikamente, um alles Weibliche zu unterdrücken. Sein Leben im falschen Körper macht Wayne allerdings einsam, und je älter er wird, umso mehr sucht er einen Weg, um zu sich selbst zu finden. Um selbstbestimmt leben zu können. Kathleen Winter ist eine großartige, aufmerksame Erzählerin. Sie hält die Entwicklungsschritte von Wayne und Annabel fest, begleitet sie verständnisvoll und beobachtet, welche Auswirkungen das besondere Kind auf seine Eltern hat. Ein empathischer Roman über einen Menschen, der nicht den Erwartungen der Gesellschaft entspricht. Günter Keil

BTB Verlag 2021, Ü: Elke Link, 448 S., 22 €

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Susanne Eckhardt: Berliner Briefe

Das 2020 wieder entdeckte Bändchen von 1948 gibt es nun auch als Taschenbuch. Mit den Briefen an den jüdischen Hans, der nach seiner Emigration nicht wieder zurückgekehrt ist, arbeitete die junge Publizistin und spätere Feuilletonchefin der Berliner Zeitung die sie drängenden Fragen der Nachkriegszeit auf. Sie tastet "das Rückgrat ihres Gewissens" ab, sieht genau hin, auch bei sich selbst: Was und wie die Deutschen redeten, wie sie wieder in die Opferrolle schlüpften und Schuld nur bei den Allieerten sahen. Wie Journalisten erneut mit dem elenden "Cui Bono?" abgewertet wurden, und wie "ihre" Parteien SPD und SED sich mit ihren Idealen überwarfen. Sie bezweifelte, ob "man mit diesen Dingen" jemals fertig würde. Sie wurde es nicht. Als Feuilletonchefin der Berliner Zeitung gerät sie in die politischen Mühlen von Walter Ulbricht und Stephan Hermlin und nimmt sich 1950 mit nur 25 Jahren das Leben. Jenny Mansch

Klett-Cotta, 118 S., 10 €