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Eine gemeinsame Zukunft im Beruf gestrickt: Frauen im alten Textilbetrieb Teck in KirchheimFoto: Ali Carman

Vor 60 Jahren, am 30. Oktober 1961, wurde eine unscheinbare Vereinbarung getroffen, deren weitreichende Bedeutung damals vermutlich kaum jemand auf dem Schirm hatte: das Anwerbeabkommen zwischen dem Auswärtigen Amt in Bonn und der türkischen Botschaft über die Entsendung von Arbeitskräften aus der Türkei in die Bundesrepublik. Was für die türkischen Kolleginnen und Kollegen zu Beginn eine Reise auf Zeit ins Ungewisse war, wurde für viele von ihnen die dauerhafte Migration in ein anderes Land – sie fanden hier ein neues Zuhause.

Heute bilden die einstigen "Gastarbeiter", deren Kinder und Enkelkinder sowie die später zugewanderten Personen aus der Türkei die größte ethnische Minderheit in Deutschland.

In den Jahren des Wirtschaftswunders war der Bedarf an Arbeitskräften in der Bundesrepublik rasant angestiegen. Zuerst waren es vor allem junge Männer – leistungsfähig und gesund – die von der deutschen Wirtschaft händeringend gesucht wurden. Doch bald schon änderte sich diese Fixierung auf männliche Arbeitskräfte. Schließlich galten die weiblichen Beschäftigten schon bald als besonders "geschickt und preiswert". So kamen die Frauen unter anderem in der Textil- und Bekleidungsindustrie und in der Elektro- und Metallindustrie zum Einsatz und wurden in entsprechenden Leichtlohngruppen vergütet. Ihr Einkommen lag weit unter dem Durchschnitt der männlichen Beschäftigten. So stieg der Anteil der weiblichen, migrantischen Beschäftigten von 1960 bis 1973 von 43.000 auf 706.000 Personen an.

Immer selbstbewusster

Die persönlichen Biografien der Kolleginnen von damals sind beeindruckend. Es war alles andere als selbstverständlich, dass Frauen die Entscheidungen über Leben und Arbeit in die eigenen Hände nahmen. So war es nicht zuletzt auch Abenteuerlust und der Wunsch nach Unabhängigkeit, der viele antrieb. Die Aussicht auf ein vergleichsweise gutes Einkommen half bei Trennungsschmerz und Heimweh.

Es waren nicht zuletzt diese Biografien, die dazu führten, dass mit der Zeit das Selbstbewusstsein und das Wissen um die eigene Stärke wuchs. Nicht ohne Grund waren die ersten feministischen Arbeitskämpfe der Bundesrepublik migrantisch geprägt. Es waren emanzipatorische Prozesse, die durch die Kolleginnen angestoßen wurden, für gleichen Lohn, für Gleichberechtigung, gegen Rassismus und Frauenfeindlichkeit. Die Geschichte der Migrant*innen in der Bundesrepublik ist somit auch eine Geschichte der Klassenkämpfe und des Empowerments. Gegen heftige Widerstände von Arbeitgeber*innen, Medien und Politik ist es gelungen, gemeinsame betriebliche Kämpfe zu führen, deutsche und migrantische Beschäftigte konnten gemeinsam Erfolge erzielen. Waren es anfangs noch vorsichtige, erste Aktionen in den Betrieben, wurden daraus bald schon wilde Streiks.

Gemeinsame Erfolge

Mittlerweile haben diese Auseinandersetzungen und Kämpfe deutliche Spuren hinterlassen, vor allem auch in den Gewerkschaften. In Migrationsausschüssen, in der Frauenarbeit und vor allem in den vielen Branchen, die auch durch migrantische Beschäftigte geprägt sind, bauen die Kolleginnen und Kollegen auf dem Wissen und der Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte auf. So geht es noch immer um materielle Anerkennung, um Respekt, um Emanzipation, um gleiche Löhne – kurzum um bessere Arbeitsbedingungen.

Zu diesem Thema wird es am 30. November um 18 Uhr 30 im Willi-Bleicher-Haus eine Veranstaltung geben. Dabei werden Kolleginnen und Kollegen von den frühen, migrantischen Kämpfen sowie den heutigen Auseinandersetzungen berichten. Alle Informationen dazu unter: stuttgart.verdi.de