Ausgabe 07/2021
Der Wert der Worte
Anthony Doerr: Wolkenkuckucksland
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem fantastischen Werk existiert eine Macht, die Jahrhunderte anhält, Kriege und Katastrophen überlebt und alle Zeiten und Orte miteinander verbindet. Es ist eine Kraft, die aus Buchstaben, Worten und Sätzen besteht, und die schließlich in Geschichten und Büchern mündet. Der US-Schriftsteller Anthony Doerr stellt diese Macht anhand von drei miteinander verbundenen Plots dar, die an drei unterschiedlichen Orten und Zeiten spielen: In Konstantinopel 1453, im amerikanischen Lakeport 2020 und im Weltall in etwa 60 Jahren.
Auf diesen drei Zeitebenen entdecken Kinder den Zauber von Büchern und Bibliotheken – in Konstantinopel ist es die Waise Anna, die in einem Kloster aufwächst und heimlich mit altgriechischen Klassikern das Lesen lernt. In den USA ist es eine Gruppe von Schülern, die ein Werk von Antonios Diogenes auf der Bühne aufführt, und in der Zukunft ist es Konstance, die in einem Raumschiff durch die größte virtuelle Bibliothek der Welt schwebt.
Die Figuren blicken über ihre Welten hinaus, sie wollen verstehen und Mauern überwinden, und dabei hilft ihnen das Lesen. Anthony Doerr verklärt jedoch nicht die Magie des Wortes, im Gegenteil; er erzählt von der Eroberung Konstantinopels, bei der ein Großteil alter Manuskripte verloren ging. Von einem in letzter Sekunde vereitelten Bombenanschlag, der die Bibliothek von Lakeport in Schutt und Asche gelegt hätte. Und von der aussichtlosen Mission im All, die die letzten überlebenden Menschen auf einen anderen Planeten bringen soll.
Können die Menschen also ihre Geschichten bewahren? Werden die Bibliotheken die Klimakrise überleben? Alles ist in Gefahr, suggeriert Anthony Doerr, wenn der Wert des Wortes nicht geschätzt wird. Auch die digitale Speicherung von Wissen und Weltliteratur ändert an der Bedrohung nichts, denn die vorgebliche dauerhafte Sicherheit kann sich schon beim nächsten Blackout der Stromnetze als trügerisch erweisen. Annas Lehrer Licinius warnt: "Auch Bücher sterben, wie Menschen. Werden sie nicht geschützt, verlassen sie diese Welt, und wenn sie das tun, stirbt die Erinnerung ein zweites Mal."
Anthony Doerr überzeugt als leidenschaftlicher Erzähler, der Genregrenzen überschreitet und philosophische Fragen transportiert. Auf diese Weise erschafft er ein kunstvolles, verblüffendes Werk über den unschätzbaren Wert von Büchern. Günter Keil
C.H. Beck, übersetzt von Werner Löcher-Lawrence, 532 Seiten, 25 Euro
Rutger Bregmann: Wenn das Wasser kommt
Rutger Bregmann ist dieser sympathische Niederländer, der 2019 mit seiner Wutrede zur sozialen Ungleichheit beim Weltwirtschaftsforum in Davos berühmt wurde. Schon Ende 2020 veröffentlichte der Historiker und Aktivist in den Niederlanden den vorliegenden Essay, für den er sieben Wissenschaftler seines Landes interviewt hat, darunter Meeresspiegel-Experten, Ökologen und Technikhistoriker. Für die deutsche Fassung sprach Susanne Götze mit deutschen Wissenschaftlerinnen. Nun hat Rowohlt sein Plädoyer gegen unsere Katastrophenvergessenheit veröffentlicht, und das schmale Bändchen eignet sich prima, um es einem Klimawandelleugner diskret in die Manteltasche gleiten zu lassen. Denn der Anstieg des Meeresspiegels schafft Fakten, auf die man vorbereitet sein sollte. Bei bis zwei Meter Anstieg müssten bereits extreme Maßnahmen wie gigantische Pumpstationen ran; bei mehr als zwei Metern, so ist sich die Wissenschaft einig, müssen die Niederländer ganze Regionen aufgegeben, und auch Hamburg und Bremen gehen dann unter. Entwaffnend und hochinteressant sind die Erkenntnisse und Erfahrungsberichte, die Bregmann hier diskutiert. Hoffnung keimt auf, wo er eine neue Generation von Ingenieuren am Werke sieht, die nicht weggucken, sondern dem dräuenden Wasser mit einer Flut von Ideen begegnen wollen. Jenny Mansch
Rororo, Ü: Ulrich Faure, 63 Seiten, 8 €
Douglas Stewart: Shuggie Bain
Schon nach den ersten beiden Sätzen mag man dieses Buch nicht mehr aus den Händen legen. Man ahnt, dass es das Leben mit Shuggie Bain, der dem Roman seinen Titel gegeben hat, bisher nicht gut gemeint hat. Wir befinden uns zunächst im Jahr 1992 in der South Side von Glasgow. Und dort sieht es zu dieser Zeit echt düster aus. Vor allem in der Männer-WG, in die sich der 15-Jährige eingemietet hat. In Rückblenden erfährt man, wie Shuggie dort gelandet ist. Und warum er in einem Supermarkt den lieben langen Verkaufstag Broiler aufspießt und grillt. Sobald man seine Familie kennenlernt, weiß man Bescheid: Mutter bildschön, aber Alkoholikerin. Vater Taxifahrer, aber immer nur auf der Suche nach Befriedigung der fleischlichen Lust. Dies allerdings schon lange nicht mehr bei der eigenen Frau, Shuggies Mutter. Die steckt dann schon mal im Leid und Rausch mit dem kleinen Shuggie im Arm und einer Zigarette in der Hand die Bude in Brand. Es wird Shuggies Lebensaufgabe, seine Mutter zu retten. Im Gegensatz zum Vater wird er zu einem Herzensbrecher der besonderen Art. Er bricht selbst der Leserin das Herz. Petra Welzel
Hanser Berlin, Übersetzt von Sophie Zeitz, 492 Seiten, 26 Euro