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Foto: ARUN SHARMA/PICTURE ALLIANCE/DPA/PTI

Megha Majumdar: In Flammen

Es ist die bittere Realität im nationalistischen Hindu-Indien der Gegenwart: Wer die falsche Religion hat, kann über Nacht zur Terroristin erklärt und verurteilt werden, auch wenn es keine Beweise gibt – nur Gerüchte und Mutmaßungen. Von so einem brisanten Fall erzählt die in New York lebende indische Autorin Megha Majumdar in ihrem unkonventionellen Debütroman.

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Jivan, die Hauptfigur, eine junge Frau aus einem Slum in Kalkutta, wird über Nacht als Terroristin gebrandmarkt, obwohl sie unschuldig ist. Angeblich hat sie einen Brandanschlag auf einen Zug verübt – was zwar nicht stimmt, aber keine Rolle mehr spielt für Nachbarn, Polizei und Politik. Denn Jivan ist die ideale Täterin: eine Muslimin. Zwar könnte sie vor Gericht problemlos von einer Bekannten und einem Lehrer entlastet werden, doch beide ziehen es vor zu schweigen, da sie Nachteile von einer entsprechenden Aussage befürchten. PT Sir, Jivans ehemaliger Sportlehrer, und Lovely, eine Transsexuelle, die Jivan in Englisch unterrichtete, sagen zunächst zugunsten der Angeklagten aus und schildern sie als talentierte Schülerin und engagierte Nachhilfelehrerin. Die Öffentlichkeit verlangt allerdings nach einer Schuldigen und nach Bestrafung, die Medien machen Druck, Politiker profilieren sich durch antimuslimische Hetze. Mit der Folge, dass sich die Zeug*innen distanzieren.

Megha Majumdar hat ihre intensive Geschichte wie eine schnell geschnittene Doku aufgebaut. In knappen Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven gibt sie realistische Einblicke in eine ungerechte Welt. Korruption, Klasse und Religion spielen im modernen Indien – nach eigener Wahrnehmung die größte Demokratie der Welt – eine wesentlich stärkere Rolle als Gerechtigkeit. Die Autorin bleibt ganz dicht an ihren Figuren, sie erzählt wie sie kochen, schlafen und wovon sie träumen, wann sie zur Arbeit gehen und was sie dort tun. Das Politische und Gesellschaftskritische an diesem Roman entsteht aus dem Privaten. So wirkt der Plot überaus authentisch, und die sozialen und religiösen Spannungen lassen sich bei der Lektüre live mitverfolgen. Jivan, die junge Muslimin, sitzt während der Handlung bereits im Gefängnis; ihr Fall wirkt wie eine radikale Anklage gegen das korrumpierte Justizsystem. Ein starker, packender Roman über Vorverurteilung und Opportunismus in einem gespaltenen Land. Günter Keil

Piper Verlag, übersetzt von Yvonne Eglinger, 336 S., 22 €

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Carmen Maria Machado: Das Archiv der Träume

Auch gleichgeschlechtliche Beziehungen können sich als toxisch erweisen. Die Essayistin Machado rekonstruiert hier ihre eigene, ganz persönliche Geschichte. Wie sie sich als dicke, junge Frau zum ersten Mal geliebt und begehrt fühlt. Wie sie bereit ist, alles für eine Liebe zu geben, die sich langsam in ein Gefängnis psychischer und emotionaler Gewalt verwandelt. In kurzen Kapiteln, die zwischen Prosa, Schauermärchen und Filmanalyse springen, erzählt sie von komplexen Gewaltdynamiken, die schwer zu greifen sind, weil sie keine blauen Augen oder Beweise kennen. Das Thema häusliche Gewalt in speziell lesbischen Beziehungen ist auch in der Literatur ein blinder Fleck. Machado schreibt bewusst dagegen an und erzählt von queeren Menschen, wie sie sind: Opfer, Täter, Liebende, Leidende. Dabei mag ihre Sprache manchmal zum Melodramatischen neigen, ihre scharfen und erhellenden Kulturanalysen und Querverweise gleichen das auf spannende Weise aus. Feline Mansch

Tropen Verlag, Ü: Anna-Nina Kroll, 336 S., 22 €

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Nathan Englander: kaddisch.com

Larry ist ein kiffender atheistischer Jude aus Brooklyn, der mit den jüdischen Traditionen nichts anfangen kann. Doch nach dem Tod seines Vaters muss er sich den Regeln beugen – seine orthodoxe Schwester offenbart ihm nach der Beerdigung, dass er elf Monate lang das Kaddisch für seinen Vater beten soll. Aber fast ein Jahr lang beten, nein, das kommt nicht in Frage. Er findet eine Website namens kaddish.com, auf der man einen praktischen Service buchen kann: Gegen Bezahlung übernimmt ein Schüler aus Jerusalem das Trauergebet, und Larry glaubt, dass er damit seiner Pflicht halbwegs nachgekommen ist. Einige Jahre später wendet sich sein Leben allerdings komplett: Larry wird tief religiös und beschließt, sich ausschließlich dem Thora-Studium zu widmen. Aus Larry wird Rabbi Shuli, und dieser bekommt 20 Jahre nach dem Tod seines Vaters Gewissensbisse. Er möchte die Jeschiwa-Schüler in Jerusalem finden, die für kaddish.com arbeiten, und seine Schuld begleichen. Doch in Israel tappt der Amerikaner in einige Fettnäpfchen. Mit großem Gespür für moralische, philosophische und spirituelle Komplikationen erzählt Nathan Englander seine Geschichte über Glaube, Identität und Familie. Günter Keil

btb, Ü: Löcher-Lawrence, 240 S., 12 €