Angela Merkel hat ihr Amt mit einem gebrochenen Versprechen verlassen. Ein uneingelöstes Versprechen, das sie den Angehörigen von zehn Ermordeten gab, das aber in den politischen Bilanzen kaum eine Rolle spielt. Ihr Wortbruch wirft zehn Jahre nach der Selbstenttarnung einer Terrorzelle, die sich hochtrabend "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) nannte, ein Schlaglicht auf staatliches Scheitern, aber auch auf die Mehrheitsgesellschaft, weil viele ihn einfach hinnehmen. "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck." Mit diesen Worten wandte sich Merkel 2012 an die Hinterbliebenen der vom NSU Ermordeten, an die Familien von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter und an die Überlebenden der Bombenanschläge.

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Martín Steinhagen ist freier AutorFoto: PETER JÜLICH

Nach 438 Verhandlungstagen und einem Urteil im Sommer 2018 im – so wäre zu hoffen: ersten – NSU-Prozess, nach 13 Untersuchungsausschüssen, Ermittlungen, journalistischen Recherchen bleiben bohrende Fragen: Was wussten die Behörden genau? Wie wurden die Opfer ausgewählt? Von Helfershelfern? Weitere Anklagen hat es bisher nicht gegeben. Die großen dunklen Flecken sollten zugleich nicht darüber hinwegtäuschen, wie viel über rechten Terror in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren ans Licht gezerrt wurde: Über institutionellen Rassismus in Polizeibehörden, die vor allem die Opferfamilien ins Visier nahmen. Über Medien, die seinerzeit lieber der Polizei in die vermeintlich "düstere Parallelwelt" der Getöteten folgten, als dem Verdacht der Angehörigen, dass sie Ziel rassistischer Taten wurden. Über das System der V-Leute, die ihren staatlichen Spitzellohn in die Szene trugen. Und über Strategien des Rechtsterrorismus und ihr gefährliches Wechselspiel mit weit verbreiteten rassistischen Ressentiments. Die Bilanz ist bitter, aber eine doppelte: Obwohl zentrale Fragen unbeantwortet sind, wissen wir zugleich viel über das Versagen von Staat und Gesellschaft im weit verzweigten NSU-Komplex – wenn wir es wissen wollen, wenn wir hinsehen.

Es hat zu lange gedauert, bis Rechtsextremismus vom Staat als größte Gefahr anerkannt wurde.

Sind daraus ausreichend Lehren gezogen worden? Wohl kaum. Etwa der naive Umgang mit vermeintlich "besorgten Bürgern", die sich ab 2014 als "patriotische Europäer" versammelten, und deren "Sorgen" man ernst nehmen müsse, wie es anfangs vielfach hieß, ist ein Beispiel von vielen. Der spätere Mörder von Walter Lübcke hatte damals den Eindruck: "Wir werden immer mehr." So schrieb er es in einer WhatsApp-Nachricht. Er half der AfD beim Plakatieren, während sich die Öffentlichkeit noch über den Umgang mit der Partei stritt. Es hat zu lange gedauert, bis Rechtsextremismus vom Staat als größte Gefahr anerkannt wurde. Erst nach dem Lübcke-Mord, den Anschlägen von Halle und Hanau wurde diese Einsicht auch unter Innenministern zur Sprachregelung. Wie wenig etwa im Bundestagswahlkampf von Konzepten gegen Rassismus und Rechtsterror die Rede war, steht zugleich im krassen Widerspruch zu dieser verspäteten Diagnose. Es ist wie mit Merkels vergessenem Versprechen, zu viele denken wohl immer noch: Mich betrifft das nicht.

Gut, dass die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag zumindest verspricht, die weitere NSU-Aufarbeitung "energisch" voranzutreiben und ein "Archiv zu Rechtsterrorismus" auf den Weg zu bringen. Auf die Umsetzung wird es ankommen – und dass die Gesellschaft diese kritisch begleitet. Der NSU und seine Nachfolger stehen zugleich für ein Scheitern des Rechtsterrorismus. Tödliche Gewalt gehört zum Kern der Ideologie der Täter und seltener: Täterinnen. Gewalt ist für sie nicht bloß Mittel zum Zweck. Mit ihren Taten wollen sie aber auch politischen Zielen näherkommen: einem "Rassenkrieg", einem Tag X. Zumindest das ist ihnen nicht gelungen. Vor allem weil Betroffene in Gerichtssälen, Parlamenten und auf der Straße deutlich gemacht haben, dass sie sich weder einschüchtern noch vertreiben lassen. Wenn Solidarität etwas bedeutet, dann sich an die Seite derjenigen zu stellen, die von der radikalen Rechten zu Zielen gemacht werden – zusammenstehen, zuhören, vor allem einschreiten. Es wäre ein Anfang, wenn kein Rechtsterrorist mehr glauben kann: "Wir werden immer mehr".

Vom Autor ist zuletzt das Buch erschienen: "Rechter Terror: Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt", Rowohlt 2021