Ausgabe 01/2022
"Zutiefst unmoralisch"
Niedersachsen – Stell dir vor, du streikst, erkämpfst dadurch einen guten Tarifvertrag, sollst aber selbst weniger Geld als deine nicht-streikenden Kolleg*innen bekommen. So ist die Lage für insgesamt rund 150 Beschäftigte bei Primark Hannover und Edeka Minden-Hannover.
"Die Unternehmen haben den Betroffenen das Weihnachtsgeld anteilig um je ein Zwölftel für jeden Streikmonat gekürzt", berichtet Sabine Gatz, Fachbereichsleiterin Handel im ver.di-Landesbezirk Niedersachsen-Bremen. "Für Vollzeitbeschäftigte bedeutet das ungefähr 200 Euro netto weniger in der Kasse. Bei den nicht üppigen Gehältern im Handel ist das keine Kleinigkeit." Seit Dezember appelliert ver.di an die Unternehmen, die Kürzung zurückzunehmen.
Rein rechtlich betrachtet, können sich Edeka und Primark in Niedersachsen auf eine alte Tarifregelung berufen. Die ermöglicht es, tarifliche Sonderzahlungen zu kürzen. "Allerdings ging es damals um eine ganz andere Gruppe", sagt Sabine Gatz. "Langzeitkranke und Beschäftigte im unbezahlten Urlaub sollten keine Sonderzahlungen erhalten. Für Streikende galt diese Regelung ausdrücklich nicht. Das hatten die Tarifvertragsparteien mündlich vereinbart." Leider wurde es später versäumt, die Ausnahme schriftlich festzuhalten. Es gab auch keinen wirklichen Grund dafür. "Damals galten mündliche Verabredungen noch, und die Arbeitgeber hielten sich jahrelang daran", sagt Sabine Gatz.
Die Wende zum Schlechteren kam Ende der 1990er Jahre, als der Arbeitgeberverband Einzelhandel in Niedersachsen eine Juristin einstellte, die die vermeintliche Regelungslücke im Tarifvertrag "entdeckte" und gegen Streikteilnehmer*innen wendete. "Wir haben das Thema in jeder Tarifrunde angesprochen und versucht, mit den Arbeitgebern zu einer pragmatischen Lösung zu gelangen", erläutert die Landesfachbereichsleiterin Handel. Bisher ohne Erfolg. Und das, obwohl sich das Gros der tarifgebundenen Einzelhandelsunternehmen in Niedersachsen-Bremen all die Jahre hindurch weiter an die mündliche Verabredung gehalten hat, Streikende bei den Sonderzahlungen nicht zu benachteiligen. In anderen Landesbezirken existieren keine Regelungen dieser Art.
"Unsere Kolleg*innen brauchen ihr tarifliches Weihnachtsgeld, um Jahresrechnungen zahlen und den Kindern ein Weihnachtsgeschenk machen zu können", hatte im Dezember Barbara Gorgs betont, Mitglied der ver.di-Tarifkommission bei der Edeka Minden-Hannover Regionalgesellschaft. Sie wies darauf hin, dass Edeka enorme zusätzliche Gewinne gerade während der Corona-Pandemie erzielt habe. "Was sie jetzt machen, ist zutiefst unmoralisch und das Gegenteil von fairem sozialpartnerschaftlichen Umgang."
"Aber während auch die von mehr Gehalt und den uneingeschränkten Sonderzahlungen profitieren, die keinen Finger für den guten Tarifabschluss krummgemacht haben, sollen ausgerechnet unsere engagierten Kolleg*innen weniger Geld bekommen. Das ist schäbig."
Sabine Gatz, Fachbereichsleiterin Handel im ver.di-Landesbezirk Niedersachsen-Bremen
Edeka Minden-Hannover ist mit einem Personalverantwortlichen in der Tarif-Verhandlungskommission auf Arbeitgeberseite vertreten, der Einfluss auf ein besseres Entgeltangebot in der Tarifrunde hätte nehmen können, sagt Sabine Gatz. "Wochenlang haben er und die übrigen Vertreter uns hingehalten mit Mini-Angeboten weit unterhalb der Inflationsrate." Erst die im Frühsommer 2021 gestartete Streikbewegung brachte Bewegung in die Tarifverhandlungen. "Aber während auch die von mehr Gehalt und den uneingeschränkten Sonderzahlungen profitieren, die keinen Finger für den guten Tarifabschluss krummgemacht haben, sollen ausgerechnet unsere engagierten Kolleg*innen weniger Geld bekommen. Das ist schäbig."
Leider stehen die Chancen nicht besonders gut, vor Gericht die volle Auszahlung des Weihnachtsgeldes zu erkämpfen, da ein vergleichbarer Fall im Organisationsbereich der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten zuungunsten der Beschäftigten ausging. Sabine Gatz sagt: "Wir können nur immer wieder darauf hinweisen, dass sich hier große und hochprofitable Handelsunternehmen ausgesprochen mies gegenüber einigen ihrer Beschäftigten verhalten." Außerdem wäre es überfällig, die einstige mündliche Vereinbarung zum Anspruch auf volle Sonderzahlungen für Streikende schriftlich in den Tarifvertrag aufzunehmen. Damit würden dann auch bundesweit einheitliche Bedingungen gelten.