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Philipp Winkler: Creep

Vor diesem dunklen Roman müsste man eigentlich warnen. Denn er ist aufgeladen wie von Stromkreisen, von digitaler Energie, vom Flimmern der Monitore und von tiefen menschlichen Abgründen. Erzählt wird aus sich abwechselnden Perspektiven der Alltag von zwei jungen Menschen, die rund um die Uhr im Netz rumhängen. Fanni ist eine Berliner Programmiererin, die für einen Konzern arbeitet, der in fünf Millionen Haushalten Indoor Cams installiert hat. Diese Sicherheitskameras dokumentieren alles, und Fanni schaut zur Beruhigung den Live-Feed einer Kleinfamilie, obwohl ihr das verboten ist. Die zweite Figur heißt Junya. Er lebt in Tokio und ist ein Hikikomori, einer jener Menschen, die nie ihr Zimmer verlassen und keine sozialen Kontakte pflegen. Junya treibt sich im Darknet herum; die Gewalt und das Dunkle ziehen ihn an, und manchmal wagt er sich nachts sogar in die Wohnungen von Fremden. Verstörend, schnell, und hinter der ansteigenden Spannung tieftraurig – so wirkt dieser Außenseiter-Roman. Philipp Winkler wechselt in kurzen Kapiteln von Berlin nach Tokio und zurück, und sein ungewöhnliches Doppelporträt wirft Fragen auf: Denn verbringen wir nicht alle schon zu viel Zeit vor Monitoren? Günter Keil

Aufbau-Verlag , 342 S., 22 €

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Natasha Brown: Zusammenkunft

Dieses Buch ersetzt ganze Regalmeter an Sachliteratur über Identitätspolitik. Dabei ist es schmaler als die meisten theoretischen Abhandlungen zum Thema. Auf wenig Raum macht Natasha Brown in ihrem autobiografisch fundierten Debüt begreifbar, was es heißt, als Schwarze Frau einen steilen "sozialen Aufstieg" zu erleben und dennoch niemals "oben" anzukommen. Ihre Ich-Erzählerin arbeitet im Londoner Finanzsektor. Sie reflektiert ihre Rolle mitten in einem ausbeuterischen System, erträgt den Rassismus und Sexismus der weißen Männer ihrer Einkommensklasse und bringt die Empörung über Ungerechtigkeit mit der Frage nach eigenen Widersprüchen zusammen. Dass dieser präzise gebaute Roman auch im Deutschen überzeugt, ist der Übersetzerin Jackie Thomae zu verdanken, die den Unterschieden in der britischen und der hiesigen Sprechweise über die Klassengesellschaft gerecht wird. Der Roman ist episodisch, anekdotisch, bruchstückhaft, fast schon zerklüftet; doch die Freiräume laden zum Verweilen ein, um die Abschnitte nachhallen zu lassen. Jeder Satz ist genau ausgearbeitet, kein Wort steht hier schief in der Textlandschaft. Ein großes Kunstwerk, das klüger macht und Demut lehrt. Christian Baron

Suhrkamp, Ü: Jackie Thomae, 113 S., 20 €

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Simone de Beauvoir: Die Unzertrennlichen

Das andere Geschlecht ist ein Klassiker des Feminismus, der Emanzipation der Frau. Und Simone de Beauvoir, die es 1949 veröffentlichte, ist bis heute eine ganz besondere Frau geblieben. Neben ihrem Standardwerk stehen viele Romane, mit denen sie in ein neues Leben aufbrach. Zu ihnen zählt auch das jetzt erst erschienene Buch Die Unzertrennlichen, das von ihrer Kindheits- und Jugendliebe zu ihrer besten Freundin Zaza handelt. An den beiden Frauenfiguren dieses Romans entspannt sich das ganze Ringen der Frauen in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts um Selbstbestimmung. Die eine zerbricht daran, die andere geht ihren Weg. Beauvoir beschreibt mit ihren bildhaften Worten eine Welt, die es heute in einer Netflix-Serie mit Downton Abbey oder The Crown aufnehmen könnte. Am Kampf um einen würdigen Platz in der Gesellschaft und die Liebe mangelt es auch in diesem Roman bei der Beauvoir nicht. Petra Welzel

Rowohlt, 143 S. + Bildokumenten, 22 €