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Ukrainer*innen auf der Flucht – nicht alle bekommen einen Platz in einem Zug gen WestenFoto: Laif

Lesia Semeniaka ist Internationale Beauftragte der ukrainischen Gewerkschaft der Nuklearbeschäftigten (Atomprofspilka), hält sich seit Kriegsbeginn in ihrer Wohnung in Kiew auf und ist in Kontakt mit den Beschäftigten in den Atomkraftwerken. Bereits am 26. Februar, zwei Tage nach den ersten Angriffen auf die Ukraine, schreibt sie in einer E-Mail, im größten ukrainischen Atommeiler Saporischschja seien zwei Mitarbeiter bei der Einnahme des Kernkraftwerks durch russische Bodentruppen ums Leben gekommen. Das Werk gerät nur wenige Tage später in die Schlagzeilen, als die russische Luftwaffe es angreift und dabei das Ausbildungszentrum zerstört. Keiner der sechs Reaktoren wird getroffen, doch die Sorge wächst, dass eine fehlgeleitete Rakete einen Atomunfall auslöst.

In einer Videokonferenz des Europäischen Gewerkschaftsverbands für den Öffentlichen Dienst (EGÖD) am 2. März, an der Lesia, vier weitere ukrainische und über 250 Gewerkschafter*innen aus allen Ecken der Welt teilnehmen, sagt Lesia: "Gewerkschaften können nicht nur einfach Arbeitnehmerrechte schützen, sie müssen auch Leben schützen." Was das für die Nuklearbeschäftigten heißt, wird jeden Tag deutlicher. Im Gegensatz zu Kernkraftwerken in Deutschland arbeiten in den ukrainischen Atommeilern deutlich mehr Menschen. Allein in Saporischschja sind es ungefähr 10.000 Mitarbeiter*innen. Am 13. März schreibt Lesia, dass die Nuklearbeschäftigten weiter ihren Dienst machten, doch nun "unter vorgehaltener Waffe" von russischen Soldaten.

"Gewerkschaften können nicht nur einfach Arbeitnehmerrechte schützen, sie müssen auch Leben schützen." Lesia Semeniaka, Internationale Beauftragte der Gewerkschaft der Nuklearbeschäftigten

In der Videokonferenz spricht auch die Vorsitzende der Gewerkschaft für das Gesundheitswesen, Viktoria Koval. Nur zwei Tage vor Ausbruch des Kriegs hatte sie noch mit dem zuständigen ukrainischen Minister über höhere Löhne für die Beschäftigten im Gesundheitswesen gesprochen. Jetzt sagt Koval: "Es ist nur noch eine Frage des nackten Überlebens, es geht um Leben und Tod."

Gemeinsam für die Kollegen

Yurii Pizhuk, Präsident der Gewerkschaft der Staatsbediensteten, berichtet, dass sich die Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, Hilfen und Essen für die im Land verbliebenen Menschen organisieren. Im Hintergrund sind Sirenen zu hören, die vor Luftangriffen warnen. Yurii wird immer wieder sehr emotional, sagt Sätze wie: "Meine Hände sind nass von den Tränen meiner Kinder."

Schon knapp drei Millionen Menschen, vor allem Frauen und Kinder, sind aus der Ukraine geflüchtet. In Hamburg organisiert Torben Seebold, früher bei ver.di für die Maritime Wirtschaft zuständig, inzwischen Personalvorstand der der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA), die Flucht der Angehörigen der 480 Beschäftigten des Unternehmens im ukrainischen Odessa. Dort betreibt die HHLA im Hafen der Stadt den größten Container-Terminal. Eine Spendenaktion, "Gemeinsam für die Kollegen in Odessa", wurde ins Leben gerufen. "Ich bin tief bewegt von der großen Anteilnahme der HHLA-Beschäftigten am Schicksal ihrer Kolleginnen und Kollegen in Odessa", sagt Seebold.

40.000 Euro seien innerhalb weniger Tage zusammengekommen. In Constantia (Rumänien) sind 94 Angehörige in einem angemieteten Hotel, weitere 152 Angehörige bei Beschäftigten der HHLA zuhause untergebracht. HHLA-Mitarbeiter*innen koordinieren an der Grenze zu Rumänien die Hilfe und Weiterreise.Die 480 Beschäftigten vor Ort, die nicht ausreisen können, weil sie überwiegend Männer im wehrfähigen Alter sind, wurden von der HHLA nach Hause geschickt. Die Arbeit im Hafen ruht. Am Container-Terminal selbst sind immer nur zehn Sicherheitskräfte im Dienst. "Die arbeiten 24/7, die sind fertig", sagt Seebold.

Und auch auf See nimmt der Stress zu. Noch rund 100 Handelsschiffe hängen laut Schätzung des Verbands der deutschen Reeder (VDR) im Schwarzen und Asowschen Meer fest, an dem auch Odessa liegt. Drei Handelsschiffe sind bereits unter Raketenbeschuss geraten, ein Schiff unter estnischer Flagge ist gesunken.

Von den 1,89 Millionen Seeleuten weltweit sind nach Angaben des VDR 200.000 Russen und 76.000 Ukrainer. Auf deutschen Schiffen leisten rund 5.000 Russen und Ukrainer ihren Dienst. Oftmals als Kapitäne, Offiziere oder Ingenieure. Nach Angaben von Mitarbeitenden der Hamburger Seemannsmission "Duckdalben" zeigten sich russische mit ihren ukrainischen Kollegen solidarisch. Sie hätten schon so viele Krisen gemeinsam überstanden, diese wollen sie auch zusammen durchstehen.

Dennoch wächst die Not auf den Schiffen. "Manchen wird infolge der Sanktionen die Einfahrt in gesperrte Häfen verwehrt, so dass Wasser und Nahrungsmittel knapp zu werden drohen", warnt Christine Behle, stellvertretende ver.di-Vorsitzende. Zudem wollten viele Ukrainer in ihre Heimat zu ihren Familien zurück. Reedereien und Besatzungsagenturen seien nach dem Seearbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verpflichtet, die Rückführung der Seeleute in ihre Heimat zu gewährleisten. "Wir fordern darüber hinaus, dass die Arbeitgeber Seeleute, die nach Hause ins Kriegsgebiet heimkehren wollen, mit zwei Monatsgrundlöhnen entschädigen", so Behle.

Letzter Halt

Zu Land auf den Handelswegen sieht es nicht viel anders aus. Russische und belarussische LKW-Fahrer bleiben an Raststätten oder Tankstellen liegen, weil ihre Kredit- und Tankkarten wegen der von der Europäischen Union verhängten Sanktionen gegen Russland und Weißrussland nicht mehr funktionieren. Zudem droht der Logistikbranche in Europa der Ausfall von über 100.000 ukrainischen Fahrern, die wie ihre Landsleute zu See zurück nach Hause wollen, um ihre Familien zu beschützen und zu kämpfen. Wie sich das auf die Lieferketten auswirke, sei noch nicht klar, heißt es beim Bundesverband Güterverkehr Logistik und Entsorgung. Allein in Deutschland würden ohnehin schon 60.000 bis 80.000 LKW-Fahrer fehlen.

Aus Nordrhein-Westfalen berichten Mitarbeiter von Faire Mobilität, einem Projekt des Deutschen Gewerkschaftsbundes, das mobile Beschäftigte wie LKW-Fahrer kostenlos berät, dass bei ihren Besuchen auf Rastplätzen die Fahrer aus der Ukraine, Belarus und Russland trotz ihrer schwierigen Lage gefasst wirkten. Lebensmittelpakete würden die russischen und belarussischen Fahrer dankend entgegennehmen. Wann und wie es für sie weitergehe, wüssten sie nicht. Aktuell fürchteten sie vor allem eines – wegen des Krieges angefeindet zu werden.

Vasyl Shilov, Vizepräsident der ukrainischen Gewerkschaft für die Sozialen Dienste, verharrt wie Lesia in Kiew in seiner Wohnung. Zuletzt schrieb er: "Ich arbeite, übersetze und organisiere humanitäre Hilfe. Jeden Tag füttere ich obdachlose Kätzchen und Tauben. Das ist – vielleicht – alles, was noch zu tun ist."