Ausgabe 02/2022
Protestgeschrei der Arbeitgeber
Wie hoch ist der gesetzliche Mindestlohn? – 9,82 Euro beträgt er derzeit, ab 1. Juli steigt er auf 10,45 Euro – und ab 1. Oktober sollten es dann 12 Euro pro Stunde sein. Der Gesetzentwurf für die letztgenannte Anhebung ist gerade im parlamentarischen Verfahren. Mit diesem großen Sprung will die Bundesregierung ihn armutsfest machen. Denn dann entspricht er ungefähr 60 Prozent des aktuellen mittleren Einkommens in Deutschland, des sogenannten Medianlohns. Und diese Richtgröße wird in der derzeit geführten Diskussion um einen europäischen Mindestlohn als angemessener Mindestschutz empfohlen.
12 Euro sind auch eine Summe pro Stunde, die ver.di schon seit längerem fordert. Die Gewerkschaften waren es, die die öffentliche Diskussion über Jahre hinweg geführt haben, sodass letztendlich 2015 eine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro in Deutschland eingeführt wurde. Rund 6,2 Millionen Beschäftigte werden nach Berechnungen des Bundarbeitsministeriums mehr im Portemonnaie haben, wenn der Mindestlohn wie geplant zum 1. Oktober 2022 auf 12 Euro erhöht wird.
Eine Studie, mit der sich die Mindestlohnkommission jüngst beschäftigt hat, zeigt, dass die Hälfte der befragten Beschäftigten nicht sagen konnten, wie die exakte Höhe des Mindestlohns aktuell lautet. Insbesondere in den unteren Lohngruppen sind die Wissenslücken groß – und das sind die, die auf den Mindestlohn angewiesen sind.
An den Wissenslücken zeigt sich auch, dass verstärkte Kontrollen zur Einhaltung der Lohnuntergrenze notwendig sind – auch eine Forderung von ver.di. So ist es zum Beispiel bei der Erfassung von Arbeitszeiten möglich, den Mindestlohn zu umgehen – insbesondere wenn Beschäftigte ihre Rechte nicht kennen und nicht genau wissen, wieviel ihnen pro Stunde mindestens zusteht. Zuständig für die Kontrolle ist die Bundeszollverwaltung, genauer gesagt deren Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS). Doch die braucht ausreichend Personal, und das fehlte schon, bevor die FKS die Überprüfung von Verstößen gegen das Mindestlohngesetz als weitere Aufgabe übernommen hat. Hier macht sich ver.di für mehr Personal und damit auch für effektivere und vor allen Dingen regelmäßigere Prüfungen stark.
Beispiel Niedersachsen: Aus der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linkspartei im Deutschen Bundestag von Anfang dieses Jahres geht hervor, dass 2021 knapp 4.000 Betriebe kontrolliert worden sind. Dabei ging es nicht nur um die Einhaltung des Mindestlohns, sondern um den gesamten Bereich Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung. Die genauen Anlässe für die Überprüfungen, etwa Verstöße gegen das Mindestlohngesetz, werden in der Statistik nicht gesondert erfasst. Zuständig ist die FKS der vier Zollverwaltungen Niedersachsens aber für knapp 300.000 Betriebe mit etwa 3 Millionen Beschäftigten, von denen etwa 463.000 ausschließlich geringfügig beschäftigt sind. "Risikoorientiert" werde geprüft, heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage. 422 Ordnungswidrigkeitsverfahren nach dem Mindestlohngesetz hat die FKS 2021 in Niedersachsen eingeleitet. Der Bundesrechnungshof hatte zuletzt 2020 signalisiert, er sehe bundesweit beim Zoll und der FKS gravierenden Handlungsbedarf, unter anderem bei der Schaffung und Besetzung von Stellen und bei der Aus- und Fortbildung.
Zudem machen die Arbeitgeber mobil gegen die geplante Erhöhung der Lohnuntergrenze. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) denkt über eine Klage gegen die geplante Erhöhung nach. Noch will sie aber der Bundesregierung die Möglichkeit geben, "seine Dinge zu korrigieren", wie der Hauptgeschäftsführer der BDA, Steffen Kampeter, in einem Interview gesagt hat. Unter anderem kritisiert die BDA den Gesetzentwurf als "grundlegenden Angriff auf die Tarifautonomie".
Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke forderte die Bundesregierung hingegen auf, sich nicht vom Protestgeschrei der Arbeitgeber beirren zu lassen. "Die Beschäftigten im Niedriglohnsektor brauchen ein Signal für höhere Mindestlöhne und gegen Altersarmut. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich den Gesetzentwurf der Bundesregierung, den gesetzlichen Mindestlohn zum 1. Oktober auf 12 Euro anzuheben", sagte er.