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Chemnitzer gegen Rechts und für VielfaltFoto:dpa Picture-Alliance

Aktuell glauben 31 Prozent der Deutschen, in einer Scheindemokratie zu leben, in der die Bürger nichts zu sagen haben. Im Osten glaubt das fast die Hälfte, 45 Prozent, im Westen sind es 28 Prozent. So das Ergebnis einer Umfrage des Allensbach-Instituts im Auftrag des Südwestdeutschen Rundfunks. Im Osten finden zudem 9,2 Prozent der Befragten, dass man sich gewaltsam gegen Vertreter*innen des Systems wehren müsse. 5,7 Prozent glauben das im Westen.

Demokratien sind zerbrechlich und ihr Erhalt erfordert permanente Anstrengung. Gewerkschaften spielen dabei eine entscheidende Rolle, denn sie sind neben Wahlen für viele Menschen häufig eine positive Demokratieerfahrung. Politische Bildung zählt mit zum Auftrag unserer Gewerkschaft. Wir müssen uns daher auf diejenigen konzentrieren, die noch erreichbar sind und mit ihnen den Dialog suchen.

Ulli Schneeweiß, ver.di-Sekretär im Bezirk Mittelfranken, engagiert sich seit vielen Jahren gegen Rechtextremismus. Auch unter Gewerkschaftsmitgliedern gibt es nicht wenige, die rechten Argumenten zugänglich sind. Das ist seit langem bekannt. Über die Jahre hat Schneeweiß festgestellt: "Hinter dem Vorwurf der Scheindemokratie steckt meist die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben. Die Anhänger, nicht zuletzt auch aus den Reihen der AfD, behaupten, bei direkten Volksabstimmungen 'nach Schweizer Vorbild' ihre Themen besser setzen zu können." Damit einher gehe teilweise eine Radikalisierungstendenz, die wir auch in der Corona-Leugner-Szene sehen.

Wie aus Worten Taten werden, ist Thema der ARD-Dokumentation "Mord an der Tankstelle – Vom Protest zur Gewalt?", für die Allensbach die Umfrage gemacht hat. Nachgegangen wird dem Mord an einer Tankstelle: Ein Corona-Leugner hatte einen Studenten erschossen, der in der Tankstelle an der Kasse jobbte und ihn dazu aufgefordert hatte, eine Maske zu tragen. Der Täter glaubte, es sei richtig, zur Waffe zu greifen. Wie konnte es so weit kommen?

Klar ist, und das arbeitet die Dokumentation heraus: Verschwörungs- und rechte Netzaktivist*innen bereiten den Nährboden für die Gewaltbereitschaft. Sachbeschädigungen, Übergriffe, Morddrohungen gegenüber Politiker*innen, Journalisten und Ärzt*innen haben in der Pandemie zugenommen. Auch Gewerkschafter*innen erleben immer wieder Gewalt und Drohungen. Zuletzt bei Aufmärschen der Corona-Leugner*innen, zuvor für ihr Engagement gegen Rechts. "Aus dem extremen rechten Lager gab es beispielsweise vor der Pandemie Todesdrohungen gegen mehrere Gewerkschafter, mich eingeschlossen", sagt Schneeweiß.

Wenn aus Hassworten Taten werden, sieht Schneeweiß keine Einzeltäterschaft, sondern die Hetzenden mit in der Verantwortung. "Die Täter handeln meist nicht in einer Bande oder einer Kameradschaft, aber auch nicht im luftleeren Raum. Sie radikalisieren sich im Wesentlichen über das Netz und sind dann zunehmend davon überzeugt, dass das, was sie da vorhaben, richtig ist und der gemeinsamen Sache dient." Durch die Unterstützung im Internet glaubten sie, dass ihr Tun angemessen sei, sagt Schneeweiß. "Aus Worten wie ,den besuchen wir mal nachts zu Hause' werden schließlich Taten."

Mangelnde Medienkompetenz spielt dabei eine große Rolle. "Wir haben 30 Jahre Internet. Im Internet steht praktisch alles. Aber auch das Gegenteil davon", sagt Schneeweiß. Viele Menschen fielen auf den letzten Mist rein. Deshalb bedürfe es der Prävention, Bildung in Medienkompetenz und Gesprächen von Angesicht zu Angesicht. "Auf Telegram, Facebook und Co. gibt es keinen Dialog, keinen echten Austausch mit Gegenmeinungen, kein Ausdiskutieren mehr. Das aber braucht die Demokratie", so der Gewerkschafter. Wichtig sei es, den Dialog im Betrieb, in der Familie, im Freundeskreis wieder herzustellen. Und denjenigen zu sagen, die der Gemeinschaft Schaden zufügen, "ihr habt hier nichts zu suchen".

Gewerkschaft ist mehr als Tarifpolitik

Abgesehen von den ganz Radikalen, die das System stürzen wollen, seien die anderen noch erreichbar, ist Schneeweiß' Erfahrung. Er sagt aber auch über die Radikalen: "Es ist nie ganz hoffnungslos. Jeder bekommt eine dritte, auch fünfte Chance, keine Frage."

ver.di unterstützt schon lange das Projekt "Stammtischkämpfer*innen". Wer von rechten Parolen oder diskriminierenden Äußerungen spontan überrascht wird, tut sich oft schwer dagegenzuhalten. Doch jede*r kann lernen, wie man solche Stammtischsprüche am besten kontert. "Wir müssen wieder viel mehr versuchen, trotz aller zeitlichen Probleme, die wir in den Betrieben haben, trotz allem Stress, trotz allem Bedürfnis, sich privat nach Feierabend zurückzuziehen, wieder mehr ins Gespräch miteinander zu kommen", sagt Schneeweiß. Gewerkschaft sei schließlich mehr als Tarifpolitik und Lohnprozente.