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Foto: M2 Films

Der schlimmste Mensch der Welt

Jemanden, der noch nicht weiß, wo es mit dem eigenen Leben hingehen soll, peinigt beim Kennenlernen kaum eine Frage mehr als: "Und was machst du so?" So jemand ist Julie. Die bald Dreißigjährige ist talentiert und begeisterungsfähig, aber von Fülle und Dynamik des Lebens so überwältigt, dass sie nichts bis zum Ende durchzieht. Ihr Medizin-, dann Psychologiestudium bricht sie ab, sieht sich als Fotografin, arbeitet aber Teilzeit in einer Buchhandlung. Wie Treibholz driftet sie durch die Bars und Parties von Oslo.

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Auch in der Liebe lässt sie sich treiben und lernt den Graphic-Novel-Autor Aksel kennen und lieben. Der ist ganz anders als sie; ein Kopfmensch, der seine inzwischen als sexistisch empfundene Underground-Comicfigur Gaupe verzweifelt gegen den gestrengen Postfeminismus verteidigen muss. Aber mit Anfang 40 weiß er, was er tut und was er will: Kinder. Ja, irgendwann mal, sagt Julie dazu. Sein klar gezeichneter Weg spiegelt ihr nur die eigene Ziellosigkeit, was sie schließlich in die Arme des charmanten Barista Eivind treibt.

Sich kennenlernen, verlieben, sich und dem anderen treu bleiben, sich trennen – wie man das schaffen kann, ohne zum "schlimmsten Mensch der Welt" zu werden, erkundet dieser als Entwicklungsroman in Prolog, 12 Kapiteln und Epilog gebaute, zweistündige Film. Es sind nicht nur die klugen Dialogszenen und verspielten Schnitte, die den Zuschauer so lange in Bann ziehen. Renate Reinsve als Julie wurde beim Filmfestival in Cannes für ihre hinreißende Julie als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Dabei hatte sie kurz zuvor beschlossen, den Beruf an den Nagel zu hängen. Abwechselnd lachend und weinend hängt man an ihrem strahlenden Gesicht, mit dem sie als Julie durch die Straßen zu ihrem Liebsten rennt. Eine herausragende Sequenz, für die Regisseur Joachim Trier die halbe Stadt Oslo und zufällige Passanten zum Stillstand gebracht hat.

Weiterer Höhepunkt dieser universellen Selbstfindungsgeschichte ist ein durch magische Pilze hervorgerufener halluzinogener Trip mit Freunden. Julies ganzes Gefühlschaos samt Bewältigung ihrer verkorksten Beziehung zum Vater kommt hier in einer urkomischen Bilderflut und unvergesslichen Pointe zusammen, über die man noch lange herzhaft lachen muss.

Nach Reprise und Oslo, 31. August versteht Regisseur Trier diesen Film als Abschluss seiner Oslo-Trilogie. Und tatsächlich spielt die wie von sommerlichem Paris-Flair duftende Stadt im Norden eine weitere Hauptrolle in dieser für jede Lebensphase wie geschaffenen Tragikomödie. Denn wer weiß schon jemals wirklich so genau, was aus ihr oder ihm mal werden soll? Jenny Mansch

N/F/D/S/D/USA 2021. R.: Joachim Trier. K.: Kasper Tuxen Andersen. D: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum. L: 121 Min., Kinostart: 2. Juni 2022

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Mit Herz und Hund

Irgendwann wird es zunehmend schwierig, noch jemand Neues in sein Leben treten zu lassen. Die nackte Angst vor weiteren seelischen Verletzungen befällt die alleinstehende Fern, die mit ihrem Yorkshire-Terrier im Park unterwegs ist, als ihr der zutrauliche Rentner Dave begegnet. Der hat seinen Schäferhund nicht angeleint und wird zunächst von beiden angeschnauzt – ein typischer Dialog unter Hundebesitzern. Dave mit seinem Eastend-Akzent bleibt hartnäckig und mit jedem Gassigang kommen sich die zwei Paare näher, die Hunde schneller als ihre Besitzer. "23 Spaziergänge" heißt diese typisch britisch erzählte Romanze mit sozialem Touch im Original, und so lange wird es auch dauern, bis sich klärt, ob die beiden mehr Gemeinsamkeiten haben, als dass sie einst im Gesundheitswesen tätig waren, und ob sie ihren Lebensballast nochmal abwerfen können. Im Film passen die beiden Hauptakteure jedenfalls blendend zusammen. Jenny Mansch

GB 2020. R: Paul Morrison. D: Alison Steadman, Dave Johns u.a., 97 Min., Kinostart: 9. Juni 2022

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Wie im echten Leben

Ungeschminkt meldet sich die Autorin Marianne aus Paris im Jobcenter der Hafenstadt Caen arbeitslos. Jeden Job will sie annehmen, um ein Buch zu schreiben, das "denen ein Gesicht gibt", die am unteren Ende der Arbeiterkette schuften. Sie taucht ab in die dreckigen Arbeits-bedingungen, unter denen die Reinigungskräfte schuften. Für Mindestlohn sind eben nicht nur die Klos scheiße, die sie putzen muss. Ein Fehler und sie landet dort, wo es am Schlimmsten ist: Auf der Fähre nach England. Betten beziehen im Minutentakt. Zwischen ihr und Christele entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Doch wie integer ist es, sich mal eben ein prekäres Leben anzueignen wie eine Jacke von Primark, die man jederzeit ausziehen kann? Hält eine Freundschaft dieses Gefälle aus? Die illusionslose Christele hat darauf eine andere Antwort als der Rest ihrer Kolleginnen in dieser eindringlich gespielten Sozialstudie. In der Juliette Binoche mit Hélèn Lambert als Christele eine starke Besetzung an ihrer Seite hat. Jenny Mansch

F 2021. R: Emmanuel Carrère. D: Juliette Binoche, Helene lambert ua., 106. Min., Kinostart: 30.6.22