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Bascha Mika ist Journalistin und Publizistin und war Chefredakteurin der taz und Frankfurter RundschauFoto: Gaby Gerster

Kennen Sie die Geschichte vom eisernen Heinrich? Heinrich ist der treue Diener des Froschkönigs. Als sein Herr in das garstige Tier verwandelt wird, lässt Heinrich drei eiserne Ketten um sein Herz legen, damit es vor Gram nicht zerspringt. Kaum wird der Frosch wieder zum Prinzen, bersten die Ketten mit lautem Krach. Heinrich ist befreit und vom Kummer entlastet.

Zweifellos gehört "Entlastung" derzeit zum Lieblingsvokabular der Bundesregierung. Es klingt so schön nach weniger Ballast, nach Rettung aus Schwere und Not. Dafür wird ein ums andere Paket geschnürt. Inhalt: Tankrabatt und 9-Euro-Ticket, Entfernungspauschale, Grundfreibetrag und Arbeitnehmerpauschbetrag, Einmalzahlung, Einmalbonus und Sofortzuschlag... Darf's noch ein wenig mehr sein? Doch bei aller Kritik – dass es nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, die Lobbyisten mal wieder frohlocken und vieles gut gemeint aber schlecht gemacht ist – wäre es unfair, das gesamte Paket als Placebo abzutun. Schließlich sind 300 Euro zusätzlich sehr willkommen, wenn man von Hartz IV leben muss.

Und dennoch schrammt das Entlastungsgerede am Kern des Problems vorbei. Längst geht es nicht mehr nur um mehr Geld im Portemonnaie. Die Sorgen, die die Menschen umtreiben, sind grundlegender, viel umfassender. Selbst in den Hochzeiten der Pandemie waren sie nicht so ausgeprägt. Eine Zermürbungsdynamik hat eingesetzt, wie es sie wohl seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Denn die Krisen reißen nicht ab und drohen den inneren Frieden dieser Gesellschaft zu zersetzen. Die eine Katastrophe war noch nicht ausgestanden, da brach bereits die nächste herein, schlimmer und existentieller. Corona, Krieg, Inflation – Schlag auf Schlag. Und dazu der überall sicht- und spürbare Klimakollaps.

„Die elementare Frage nach sozialer Gerechtigkeit drängt wieder mit aller Schärfe ins Bewusstsein.“

"Wir sind aus einem Schlummerschlaf der Bequemlichkeit brutal herausgerissen worden", konstatiert der Theologe Peter Dabrock. "Corona war zwar ein böses Erwachen, aber inzwischen reicht die Verun-sicherung tiefer." Der äußere Feind, der einen Vernichtungskrieg in der Ukraine führt, und der innere Feind, der das finanzielle Überleben gefährdet, haben ein Bedrohungsszenario geschaffen, das an der gesellschaftlichen Widerstandskraft zehrt und den Glauben an eine gute Zukunft aushöhlt. Ketten, so schwer wie vom eisernen Heinrich, schnüren den Menschen die Zuversicht ab. Sie fühlen sich ungeheuer belastet. Dabei zeigt die Erwerbspersonen-Befragung der Hans-Böckler-Stiftung: Je niedriger das Einkommen, desto höher der Grad an Pessimismus und Frustration. Wer wenig hat, zweifelt um so mehr, dass seine individuellen Reserven und die Ressourcen des Landes reichen, um eine Zukunft zu gestalten. Die Furcht aufgrund der politischen Weltlage und die materiellen Sorgen aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung bilden eine toxische Mischung aus Ängsten und quälender Verunsicherung. Inzwischen, so die Hans-Böckler-Stiftung, erwarten zwei Drittel der Menschen im Land, dass die "soziale Ungleichheit die Gesellschaft so weit auseinanderdriften lässt, dass sie Gefahr läuft, daran zu zerbrechen." Ein tödlich-schleichendes Gift für die Demokratie.

Die elementare Frage nach sozialer Gerechtigkeit drängt wieder mit aller Schärfe ins Bewusstsein. Die Dauerkrisen haben den Blick auf dieses Dauerthema neu fokussiert, die Ängste reichen bis weit in die Mittelschichten hinein. Betroffen fühlen sich diejenigen, die faktisch benachteiligt sind ebenso wie diejenigen, die sich zwar materiell besserstellen, aber um den gesellschaftlichen Zusammenhalt fürchten. Wenn, wie Umfragen belegen, drei Viertel der Bevölkerung glaubt, dass die Folgen des Ukraine-Kriegs die soziale Schieflage enorm verschärft, muss das allen Angst machen. Es ist ein Indikator für Stürme von Entrüstung, die ins Haus stehen könnten. Zweifel an der demokratischen Ordnung, Unruhen, gegen die der realitätsfeindliche Protest der Corona-Leugner und Reichsbürger lächerlich war.

Die krasse soziale Ungleichheit legt die Lunte an unsere Demokratie. Das wissen wir nicht erst seit heute, doch die Weltläufe rücken diesen schreienden Missstand erneut ganz vorn auf die Agenda. Denn selbst wenn es zu einem Frieden in der Ukraine kommt, selbst wenn die Inflation abflaut, sind die Ursachen des Problems ja keineswegs beseitigt. Zudem schreiben sich einmal erfahrene, tiefgreifende Ängste ins kollektive Bewusstsein ein; wo das Sicherheitsgefühl grundlegend erschüttert wird, bleibt es instabil. Und destabilisiert die Gesellschaft. Die Politik weiß das. Und fürchtet es. Doch wo bleiben sie, die gesprengten Ketten der falschen Verhältnisse?