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Das Linksbündnis in Frankreich wirbt mit seinem bekanntesten Kopf Jean-Luc MélenchonFoto: abaca press/ddp

Was ist los in Frankreich? Im April erzählten deutsche Medien, das Land stünde kurz vor einer rechtspopulistischen Machtübernahme, im Juni wiederum, dass ein Linksradikaler Regierungschef werden könnte. Trotz mieser Beliebtheitswerte wurde der amtierende Präsident Emmanuel Macron Ende April wiedergewählt, doch nun, ein paar Wochen später, muss er um seine parlamentarische Mehrheit bangen. Es ist ein Hin und Her. Und das liegt zunächst an der antiquierten Verfassung des Landes. Die entscheidendste Wahl ist die des Staatsoberhaupts, erst dann wird die Nationalversammlung gewählt, welche in der Regel bloß als Registrierungskammer der Exekutiven waltet.

Koalitionsbildungen wie in Deutschland sind unbekannt. Auf einer Seite sitzt das präsidiale Lager, auf der anderen die Opposition. Jahrzehntelang hatten sich Sozialdemokraten und Bürgerliche am Ruder abgewechselt, ohne deswegen die Fahrtrichtung zu ändern. Nun hat sich der rituale Stuhlwechsel definitiv abgenutzt. Dieses Jahr erhielten beide ehemalige Regierungsparteien nicht einmal mehr 5 Prozent der Stimmen.

Jahrzehntelang hatten sich Sozialdemokraten und Bürgerliche am Ruder abgewechselt, ohne deswegen die Fahrtrichtung zu ändern.

Gegen diese Erosion war Emmanuel Macron 2017 angetreten. Um ihn scharten sich ex-linke wie ex-konservative Politiker, doch anstelle der angekündigten Erneuerung wurde die wohlbekannte wirtschaftsliberale Politik noch intensiviert. Abschaffung der Vermögenssteuer, stufenweise Privatisierung der Bahn, Verknappung der Arbeitslosenversicherung, konservative Bildungsreform, Abbau von Krankenhausbetten, desaströses Pandemie-Management, nicht zuletzt eine unerhörte Polizeigewalt unter anderem gegen gewerkschaftliche und Gelbwesten-Proteste: Das ist die Bilanz, die laut anhaltender Umfragewerte dreiviertel der Bürger nicht gutheißen. Entsprechend schlecht war auch Macrons Ergebnis im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl, bei der dieses Jahr 12 Bewerberinnen und Bewerber konkurrierten. Lediglich 21 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für Macron – und dass obwohl der Präsident in Kriegszeiten als Oberbefehlshaber gewöhnlich einen Amtsbonus hat.

Doch für Macron war das kein Anlass zur Sorge. Siegessicher hielt er es nicht einmal für nötig, in einen nennenswerten Wahlkampf zu ziehen. Nach einem bewährten Szenario sollte nämlich die Stichwahl eine Volksabstimmung sein – nicht für seine Politik, sondern gegen seine rechtspopulistische Herausforderin Marine Le Pen. Seit 20 Jahren sieht sich eine Mehrheit der Franzosen immer wieder genötigt, eine "republikanische Front" gegen Rechtsextremismus zu bilden, und damit dem Kandidaten des kleineren Übels einen Blankoscheck auszustellen. Über Programme und Orientierungen wird nicht diskutiert. So verkommt Demokratie zu einer Farce, die wiederum Wasser auf Le Pens Mühlen leitet.

In der Stichwahl haben für die rechte Kandidatin besorgniserregende 13 Millionen Bürgerinnen und Bürger abgestimmt (zwei Millionen mehr als 2017). Doch dass sie die Wahl gewinnen könnte, glaubte nicht einmal Marie Le Pen selbst. Der eigentliche Unsicherheitsfaktor aber sind die Nichtwähler: Zum ersten Mal haben sich 17 Millionen ihrer Stimme enthalten oder ungültig gewählt. Rechnet man sie mit ein, ist Macron von lediglich 38,5 Prozent der Wählerschaft im Amt bestätigt worden. Offenbar reicht das erpresserische Argument von antifaschistischer Abwehr nicht mehr. Noch nie war die Legitimität eines Präsidenten so dünn.

Die Vernunftehe der Linken

Und wo bleibt die linke Alternative? Im ersten Wahlgang wetteiferten Restsozialisten, Grüne, Trotzkisten und Kommunisten gegeneinander, wobei ihre inhaltlichen Differenzen den Wählern entgangen sein dürften. Für die Partei La France Insoumise (die Entsprechung der hiesigen Partei Die Linke) hätte der rhetorisch begabte und TV-affine Jean-Luc Mélenchon der Rechtspopulistin beinahe den zweiten Platz gestohlen. Hätten sich die sechs linken Kleinparteien auf Mélenchons Kandidatur einigen können, hätte er im ersten Urnengang gar Macron überholt.

Darum haben sie sich jetzt in einem parteiübergreifenden Bündnis versammelt, NUPES genannt. Die neue Liebe ist es deswegen nicht, vielmehr eine Vernunftehe, um nicht vereinzelt in die Bedeutungslosigkeit zu fallen. Zwischen den Partnern sind manche Unterschiede nur schwer überbrückbar. So fordern die einen den Atomausstieg, die anderen den Ausbau von neuen AKWs.

Dennoch: Die Einheitstaktik ist aufgegangen. Zwar wird das Linksbündnis nicht die ersehnte absolute Mehrheit stellen können, diese wird aber auch das präsidiale Lager voraussichtlich verlieren, und damit die unbedingte Unterstützung des Parlaments. Mit einer starken Opposition wird nun in Frankreich zu rechnen sein. Und Bedarf dafür wird es in Macrons zweiter Amtsperiode auf jeden Fall geben.

Bereits im Herbst soll Macrons teuerstes Projekt endgültig verabschiedet werden: die Rentenreform, die nach wochenlangen Streiks Anfang 2020 wegen der Pandemie verschoben werden musste. Unmissverständlich hat Emmanuel Macron nach seiner Wiederwahl Élisabeth Borne zur Premierministerin befördert, eine Altbekannte der Gewerkschaften. Als Verkehrsministerin während des langen Bahnstreiks 2018 hatte sie sich knallhart jeglicher Verhandlung verweigert.

So, wie es aussieht, werden sich die anhaltenden sozialen Konflikte in Frankreich wie gehabt fortsetzen, nur unter etwas geänderten politischen Bedingungen.