Ausgabe 05/2022
Mangel kommt von Mangel
"Wir haben zu wenig Personal und die Stellen werden nicht besetzt. Überall fehlen Fachkräfte", sagt eine Kita-Leiterin. "Wir hatten lukrative Abfindungsprogramme und jetzt, wo es wieder richtig losgehen soll, fehlen überall Leute", berichtet ein Ingenieur am Frankfurter Flughafen. "Ein Passagier hat eine Kollegin geschlagen, weil er unbedingt seinen gebuchten Flug wollte. Aber wir können doch nichts dafür, dass Flüge ausfallen, weil Personal fehlt", so eine Lufthansa-Mitarbeiterin. Den beschriebenen Fachkräftemangel gibt es nicht nur in Deutschland. Ein kurioser Höhepunkt war vielleicht das: Ein Flugzeug voller Koffer musste von London in die USA fliegen, weil sich das liegengebliebene Gepäck am Flughafen Heathrow in der Gepäckaufbewahrung staute. Auch dort fehlen Leute.
Zu wenig geboten
Laut der Bundesagentur für Arbeit gibt es in Bauberufen, dem Handwerk, der Pflege und dem IT-Bereich seit geraumer Zeit einen Mangel an Fachkräften. Deshalb hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in 2021/22 Betriebs- und Personalräte für eine repräsentative Studie zum Fachkräftemangel befragt. Die Beschäftigtenvertretungen weisen auf einen wichtigen Grund hin, den Unternehmensleitungen eher selten nennen: unattraktive Arbeitsbedingungen wie niedrige Bezahlung oder ungünstige Arbeitszeiten. Je nach Qualifikationsprofil der offenen Stellen würden ein Viertel bis ein Drittel der Befragten darin den wichtigsten Faktor für Schwierigkeiten bei der Personalgewinnung in ihrem Betrieb sehen.
Dies beobachtet auch ver.di. Im öffentlichen Dienst ist beim Personal zunehmend Land unter. Seit Jahren klagen Beschäftigte über die Zunahme ihrer Arbeitsbelastung, immer öfter bleiben Fachkräfte aus und junge Leute gehen lieber in die Wirtschaft. ver.di Rheinland-Pfalz-Saarland berichtete anlässlich des "Internationalen Tages des Öffentlichen Dienstes", am 23. Juni, die schon vorhandenen Probleme beim Fachkräftemangel seien im öffentlichen Dienst in den vergangenen zwölf Monaten noch größer statt kleiner geworden. Das gelte nicht nur für ausgewählte Berufsgruppen, sondern im gesamten öffentlichen Dienst.
In vielen wichtigen Dienstleistungen – an Flughäfen, in den Sozial- und Erziehungsdiensten, in der Pflege, im Nahverkehr, überall im öffentlichen Dienst fehlen Fachkräfte. Trotzdem stößt ver.di bei den Arbeitgebern noch viel zu oft auf taube Ohren. Sie wollen nicht hören, dass schlechte Arbeitsbedingungen die Leute aus den Berufen treiben. Corona und der Ukrainekrieg haben das nun noch zusätzlich verschärft, wie jetzt die Flugverkehrsbranche deutlich zu spüren bekommt, und wie es die Ämter, Kitas und Schulen schon längst kennen. Gerade im öffentlichen Dienst ist in den letzten Jahren viel Personal abgebaut worden. Das hat den Druck am Arbeitsplatz stetig erhöht.
Viele gehen in Rente
In der Pandemie gab es Jobwechsel aus den Krisenbranchen und vorgezogene Ausstiege aus dem Berufsleben mit Hilfe von Abfindungen. Zusätzlich gehen nun die sogenannten geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Allein im ÖPNV werden bis 2030 etwa 100.000 neue Beschäftigte benötigt, weil bis dahin jeder zweite in den Ruhestand geht, so die Zahlen von ver.di 2020 in der Tarifrunde für den Öffentlichen Personennahverkehr. Weitere 15.000 zusätzliche Einstellungen werden gebraucht, um zum Stand im Jahr 2000 vor dem Beschäftigungsabbau zurückzukehren. Eine Verdoppelung des ÖPNV-Angebots für den Klimaschutz bräuchte noch mehr Menschen, allein rund 70.000 Beschäftigte.
Mit dieser Situation steht der Nahverkehr nicht allein da. Unter dem Stichwort "Arbeiterlosigkeit" schreibt die Süddeutsche Zeitung, in den nächsten zehn Jahren fehlten nach und nach ein bis vier Millionen Menschen im typischen Berufsalter. Sie reißen ein Loch. Und: Die Betriebe müssten sich mehr um ihre Mitarbeiter bemühen. Es sei ja kein Zufall, dass gerade Gastronomen, Securityfirmen oder Pflegeheimen die Leute ausgehen. In diesen Berufen würde oft körperlich hart oder abends und am Wochenende gearbeitet – und das würde meist schlecht entlohnt. Diese Branchen müssten also mindestens besser bezahlen.
Gute Arbeitsbedingungen und guter Lohn, das ist genau das, was ver.di seit Jahr und Tag fordert. Die Menschen brauchen ein Einkommen, von dem sie leben können und das ihnen auch später eine auskömmliche Rente beschert. Ansonsten suchen sie sich einen besseren Job. "Wir als ver.di kämpfen mit unseren Mitgliedern für Tarifverträge, die eine Antwort auf die stark gestiegenen Preise geben", wiederholte deshalb auch der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke kürzlich bei der Konzertierten Aktion des Kanzlers. Dabei geht es nicht um Einmalzahlungen und den berühmten Tropfen auf den heißen Stein, sondern um attraktive Arbeitswelten.
Und die greifen bis in die Bildung, wo es ebenfalls an Anreizen mangelt. So sagte Anfang des Jahres die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle in einem Interview bezüglich des Fachkräftemangels in den Sozial- und Erziehungsdiensten, es gebe nicht genügend Ausbildungsplätze. Das liege daran, dass die Fachschulen über zu wenig Lehrkräfte verfügten. Die Ursache dafür sei, dass die Hochschulen zu wenig Lehrkräfte ausbildeten, weil es an den Universitäten nicht genug Studienplätze für sie gebe. Der Beruf sei unattraktiv und deshalb würden auch die Voraussetzungen, ihn zu ergreifen, nicht ausreichend geschaffen. "Wenn wir den Fachkräftemangel beseitigen wollen, müssen wir in der Kette viel früher anfangen: bei den Universitäten und bei den Schulen." Erschwerend kämen die Ausbildungsbedingungen hinzu, die fehlende Vergütung und wachsende Anforderungen in den Berufen.
Das Ringen um die Köpfe
"Die Beschäftigten schuften sich in Kliniken und Pflegediensten, an den Flughäfen oder bei den Paketdiensten kaputt, öffentliche Investitionen bleiben aus und dem Finanzminister fallen Überstunden ein."
Frank Werneke, ver.di-Vorsitzender
So viel sollte allen Arbeitgebern inzwischen klar sein: Jetzt beginnt das Ringen um die Köpfe. Zur Personalgewinnung gehören gute Ausbildungsbedingungen, gute Arbeitsbedingungen und gute Löhne. Überstunden, wie sie jüngst Bundesfinanzminister Christian Lindner, FDP, vorgeschlagen hat, um der Wirtschaft aus der Personalnot zu helfen, sind da absolut kein Anreiz. In der Alten- und Krankenpflege sind die Menschen ja gerade aus solch unzumutbaren Bedingungen in Teilzeit geflohen, weil sie den Druck nicht mehr ausgehalten haben. Sie brauchen bessere Bedingungen, um zurückzukehren. Nicht schlechtere.
Einer Studie zufolge könnten 300.000 Vollzeitstellen wieder besetzt werden, wenn dort ausreichend Personal vorhanden wäre, mehr Zeit für die Pflege, verlässliche Arbeitszeiten, eine bessere Bezahlung und Tarifbindung. Frank Werneke sagte gegenüber dem Tagesspiegel, "der Bundesfinanzminister hat mittlerweile jeden Bezug zur Realität verloren. Die Beschäftigten schuften sich in Kliniken und Pflegediensten, an den Flughäfen oder bei den Paketdiensten kaputt, öffentliche Investitionen bleiben aus und dem Finanzminister fallen Überstunden ein." Das sei absurd.
Das Ringen um den beruflichen Nachwuchs wird künftig zusätzlich an Fahrt aufnehmen, weil seit Gründung der Bundesrepublik noch nie so wenige junge Menschen in Europa und in Deutschland gelebt haben. Seit Jahren sinkt der Anteil der 15- bis 24-Jährigen in Deutschland, dabei sind besonders die ostdeutschen Bundesländer betroffen, heißt es aus dem Statistischen Bundesamt. Ende 2021 waren in der Bundesrepublik von 83,2 Millionen Menschen gerade einmal rund 8,3 Millionen im Alter von 15 bis 24 Jahren. Das entspricht einem Anteil von zehn Prozent an der Gesamtbevölkerung. Arbeitgeber sollten also schleunigst jungen Menschen den Weg ins Berufsleben versüßen und ihnen sichere, konkurrenzfähige und gut bezahlte Arbeitsplätze bieten, anstatt ihnen mit Befristungen, Überstunden und schlechten Löhnen zu kommen.
Dort, wo gute Arbeit Mangelware ist, da mangelt es auch zuerst an Fachkräften. Und weil es europaweit an jungen Menschen fehlt, ist es auch keine Lösung, die fehlenden Fachkräfte ad hoc aus dem Ausland zu rekrutieren. Das hat mit den in Mexiko gesuchten Pflegekräften in der Pandemie nicht funktioniert, die der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) holen wollte. Das funktioniert nicht an den Flughäfen mit Hilfe schnell herbeigeschaffter und befristeter Arbeitskräfte aus der Türkei, wie wir aktuell sehen. Und es wird auch in Zukunft nicht funktionieren.