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Foto: XinHua/picture alliance/dpa

Fang Fang: Wütendes Feuer

Mit ihrem Lockdown-Tagebuch Wuhan Diary wurde die chinesische Schriftstellerin Fang Fang weltberühmt. Doch schon zuvor geriet die heute 67-Jährige mehrmals ins Visier der Behörden. Ihre Werke verschwinden in China immer wieder aus dem Angebot von Buchläden oder Onlinehändlern. Zudem muss Fang Fang mit heftigen Anfeindungen leben. Der Grund: Sie widmet sich den Problemen der Armen und Entrechteten. Sie gibt Menschen eine Stimme, deren Schicksale sonst meist verschwiegen werden.

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In ihrem neuesten ins Deutsche übersetzten Roman porträtiert Fang Fang eine junge Frau aus dem ländlichen China. Yingzhi, so heißt sie, träumt von einem selbstbestimmten Leben. Und tatsächlich sieht es zunächst so aus, als ob sie sich von den rückständigen Rollenbildern und Moralvorstellungen ihres Dorfes freimachen kann. Sie hat Auftritte als Sängerin einer kleinen Band, spart Geld auf einem eigenen Konto und kauft sich schöne Kleider.

Doch dann wird Yingzhi schwanger. Von einem Mann, mit dem sie eigentlich nur ein paar Nächte verbringen wollte. Die Tradition zwingt sie jedoch, den Vater des Kindes zu heiraten und in sein Elternhaus einzuziehen. Dort wird sie behandelt wie Dreck, denn Frauen gelten auf dem Land als minderwertige Ware, die nur einen Zweck hat: ihren Männern und Familien zu dienen. Yingzhi versucht mehrmals, aus dieser Rolle auszubrechen, doch sie muss schuften, während ihr spielsüchtiger Mann ihr Geld verprasst. Darüber hinaus wird die junge Frau geschlagen, gedemütigt und vergewaltigt.

Yingzhi besteht allerdings weiterhin auf ihren eigenen Plänen, bleibt lebenshungrig und widersetzt sich den Zwängen der Dorfgemeinschaft. Diese Haltung hat ihren Preis: "Nacht für Nacht überfällt mich das Gefühl, von Flammen verfolgt zu werden. Von einem rasenden Feuerball, dessen Flammen hoch in den Himmel schlagen", schreibt Fang Fang im Namen und aus der Perspektive von Yingzhi. Deren Leidensweg beschreibt die Schriftstellerin realistisch und schonungslos. Sie leuchtet die brutale frauenfeindliche Welt aus, und so wird ihr Roman zu einer Anklage, zu einer Dokumentation des Grauens. Über die Erzählung des Einzelschicksals kritisiert Fang Fang indirekt nicht nur die Zustände in China, sondern auch überall sonst, wo Frauen ungerecht behandelt werden. Günter Keil

HOFFMANN UND CAMPE 2022, ÜBERSETZT VON MICHAEL KAHN-ACKERMANN. 208 S., 22 €

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Christine Volpert, Corinna Urbach: Lost & Dark Places, Berlin & Brandenburg

Das Urban Exploring, das Erkunden verlassener Orte, hat sich den letzten Jahren zu einem beliebten Hobby entwickelt. Die beiden Autorinnen dieses ersten "Dark Tourism Guide" für Berlin und Brandenburg haben für diesen Band der deutschlandweiten "Lost-Places"-Reihe entsprechend versteckt gelegene oder gut getarnte Gebäude und Orte aufgespürt, die man ohne ihre mitgelieferten Anfahrtstipps und GPS-Koordinaten gar nicht so leicht finden würde. Ihre Daten führen uns mal zu einem ehemaligen Gefängnis, das die Gräueltaten der NS-Diktatur bezeugt, mal in eine Nervenheilanstalt im Wald und mal in eine leerstehende Hutfabrik in einem Industriegebiet. Wir erfahren, welche Rolle diese vergessenen Orte für die oft dunkle Geschichte der Region gespielt haben. Einige davon sind besuchbar, andere längst geschlossen – doch immer verbergen sie spannende Geschichten in 33 bebilderten Kapiteln. Weil sich manche Touristen in der Vergangenheit gewaltsam Zutritt zu Gebäuden verschafft haben oder gar ein Erinnerungsstück mitgehen ließen, beginnt der Guide mit ein paar freundlichen Benimmregeln. Rita Schuhmacher

BRUCKMANN VERLAG 2022,160 S., 22,99 €

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Klaus Ungerer: Wir sagen einfach alles, wovor wir Angst haben

Die marktkonforme Demokratie verlangt viel von den Menschen. Ständig müssen sie Grenzen neu ausloten, Spitzenleistungen bringen und immerzu belastbar und flexibel bleiben. Ihr Leben ist rasant, entgrenzt, manisch. Darum lieben sie nur noch unter Vorbehalt. So wie Nuna, die weibliche Protagonistin in Klaus Ungerers neuer Novelle. Die Spanierin hat dem Erzähler Tim den Kopf verdreht. In Berlin ist er dieser Frau begegnet, in die er all jene Sehnsüchte und Ängste hineinprojiziert, die ein Mann mittleren Alters inmitten einer Lebenskrise empfinden kann. Nuna lässt sich auf ihn ein, er liefert sich ihr aus – und sie lacht, als er fragt: "Gibt es eine Chance, dass ich in zwanzig Jahren noch in deinem Leben bin?" Ungerer zeigt die als Bindungsunfähigkeit getarnte Selbstbezogenheit geschlechtsreifer Großstädter, ohne zu moralisieren. Er spielt mit narrativen Auslassungen, macht einem die Sympathie mit seinen Figuren angenehm schwer und braucht nur wenige Worte, um die universelle Bedeutung der Hoffnung herauszustellen. Wie sich hier nicht zuletzt die soziologische Analyse im Gewand formvollendeter Prosa präsentiert, darauf stößt man selten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Christian Baron

edition schelf, 112 S., 8,99 €