Der Verteilungskampf

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Oktober 2022

Die Tarifparteien der Chemieindustrie fallen nicht durch Krawall und Arbeitskämpfe auf. Aber sie hätten durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient – denn sie leisten zuverlässig gute Arbeit. Ihr neuer Tarifabschluss, den sie in nur einer Verhandlungsrunde ausgetüftelt haben, beweist es wieder einmal. (...) Demgegenüber haben die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst, deren Klientel sich sonst staatstragend gebärdet, diese Verantwortung mit der neuen Tarifforderung von 14 Prozent abgelehnt. Andere Gewerkschaften, auch die IG Metall, stellen durchaus in Rechnung, dass die Beschäftigten derzeit auch durch staatliche Hilfspakete einige Entlastung erhalten. Wer in der Rezession jedoch eine Tarifpolitik der Kaufkraftsteigerung verabsolutiert, führt damit – gesamtwirtschaftlich gesehen – einen Verteilungskampf auf Kosten aller anderen.

Das Ausrufezeichen

Die Rheinpfalz, 12. Oktober 2022

10,5 Prozent – mit ihrer Lohnforderung für die Beschäftigten beim Bund und in den Kommunen setzen die Gewerkschaften Verdi und Deutscher Beamtenbund ein Ausrufezeichen, auch im Vergleich zur Metall- und zur Chemieindustrie. Zugleich liegt die Forderung nicht weit weg von der zu erwartenden Inflationsrate, das heißt der prozentuale Abschluss selbst dürfte niedriger ausfallen als die Teuerungsrate – was ein reales Minus beim Einkommen bedeuten würde. Die Gewerkschaften sind sich dieses aus ihrer Sicht misslichen Szenarios durchaus bewusst. Deshalb betonen sie auch die Bedeutung der Entlastungspakete, die die Politik auf den Weg bringt. Diese sollen, so die Rechnung, ergänzend zum Tarifabschluss dafür sorgen, dass die Einkommen der Beschäftigten unterm Strich stabil bleiben.

Das Bestmögliche

Handelsblatt, 13. Oktober 2022

Dass die Inflation rasch wieder auf Vorkriegsniveau sinkt, glaubt niemand mehr, Wirtschaftsforscher gehen davon aus, dass Arbeitnehmer sich längerfristig auf eine sinkende Kaufkraft einstellen müssen. Jeder Gewerkschafter, der heute nicht versuchen würde, das Bestmögliche für seine Mitglieder herauszuholen, hätte seinen Beruf verfehlt. Und das Argument, dass die absehbare Rezession noch schlimmer würde, wenn die Kaufkraft und damit der private Konsum einbrächen, ist nicht von der Hand zu weisen. Noch ist es auch zu früh, das Gespenst einer Lohn-Preis-Spirale an die Wand zu malen. Denn eine Forderung ist noch kein Tarifabschluss.

Der Mythos

Süddeutsche Zeitung, 13. Oktober 2022

Die Sorge, die mit Kluncker verbunden wird, ist die, dass Gewerkschaften unverantwortlich hohe Lohnsteigerungen durchdrücken, Firmen daraufhin Preise erhöhen könnten und immer so fort. Ökonomen nennen das Lohn-Preis-Spirale, sie treibt die Inflation und vertieft die Krise. Doch das Schreckgespenst taugt für diese Zeit nicht, aus mehreren Gründen. Die Gewerkschaften verhalten sich verantwortungsvoll, das zeigen die Tarifrunden seit Kriegsausbruch. Verdi & Co. fordern 10,5 Prozent, doch der Abschluss wird niedriger ausfallen. Dabei könnte ein Instrument zum Tragen kommen, das die Bundesregierung bereitstellt, um exakt jene Lohn-Preis-Spirale zu verhindern: Steuerfreie Sonderzahlungen von bis zu 3.000 Euro, welche die Lohnkosten eben nicht dauerhaft steigern. Ohnehin treiben ja gerade nicht die Löhne die Inflation, sondern es sind vor allem die Energiepreise.