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Die finnische Hilfsorganisation IFRT verteilt Hilfsgüter an die Einwohner*innen von Isjum
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Olexander Onikiienko ist Arzt in der Kinderklinik in Charkiv. Sie ist die größte der Region
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Nächtlicher Angriff auf Charkiw – die Feuerwehr ist sofort vor Ort
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Dolmetscherin Anna fand Splitter einer russischen Rakete im Wohnzimmer
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Die eigene Wohnung ist zerstört, Sasha Vendland lebt jetzt bei Nachbarn
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Bomben haben die Aufnahme des Zentralen Stadtkrankenhauses in Isjum zerstört
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In Lyman hoffen die Einwohner*innen auf Hilfslieferungen vom Roten Kreuz
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Ein Mädchen freut sich über ein Geschenk niederländischer Jugendlicher

Seit Stunden rumpelt unser VW-Bus über menschenleere Straßen. Auf dem Asphalt liegen zersplitterte Äste, zerborstene Fensterscheiben und von Detonationen aufgeworfene Erde. Inzwischen ist es Nacht und weit und breit kein Licht zu sehen. Wir passieren dunkle Dörfer, zerbombte Häuser, zerschossene Autos, ausgebrannte Panzer. Eine unheimliche Stimmung liegt über allem, was wir sehen. Wir sind auf dem Weg nach Lyman, der kleinen Stadt im Osten der Ukraine, die unlängst durch die ukrainische Armee von der russischen Besatzung befreit wurde.

Wir treffen niemanden, den wir nach dem Weg fragen könnten. Immer wieder müssen wir vor gesprengten Brücken umkehren und neue Routen finden. Wir suchen nach einer Pontonbrücke über den kleinen Fluss Nitrius, der momentan einzigen Zufahrt nach Lyman. Je länger die Suche dauert, desto müder werden wir. Immer öfter krachen die Reifen in eines der vielen Schlaglöcher. Wir tauschen ernste und besorgte Blicke aus.

Plötzlich tauchen Soldaten wenige Meter vor uns im Scheinwerferlicht auf. Eine ukrainische Patrouille. Wir schalten den Motor aus und die Innenbeleuchtung an. Nach wenigen Worten hellen sich die Minen der Männer auf. Sie helfen uns weiter. Die Richtung zur Pontonbrücke stimme zwar, erklären sie, wir müssten nur die richtige Abzweigung erwischen. Der Offizier skizziert uns den Weg auf ein Blatt Papier. Es sind nur drei Striche und zwei Kringel – aber sie erfüllen ihren Zweck. Wenig später treffen wir erleichtert auf die Behelfsbrücke nach Lyman.

Geladen haben wir Babynahrung, Konserven, Verbandszeug und warme Decken. Es sind Spenden, die viele Privatleute und eine kleine Hilfsorganisation in Düsseldorf gesammelt haben. Dort startete unsere Fahrt vor einer Woche.

Über Autobahnen quer durch Deutschland und Polen, vorbei an Ferienorten und Skigebieten, Übernachtung bei Warschau und Kaffee bei McDonalds. Bis dorthin hätte die Fahrt fast den Charme einer Urlaubsreise haben können.

Im Juni hatten wir schon einmal Hilfsgüter nach Kiew gefahren. Jetzt im Oktober sind die kürzlich befreiten Regionen in der Ostukraine unser Ziel. In Charkiv, Isjum und Lyman scheint der Hilfsbedarf am dringendsten. Wir wollen mit unseren Einsätzen einen kleinen Beitrag leisten, den Menschen in der Ukraine helfen und unsere Solidarität mit ihnen zeigen. An wen wir Spenden liefern, ist mit der Hilfsorganisation in Düsseldorf geplant.

Decken für acht Familien

Nach zwei Tagen und 2.500 Kilometern erreichen wir zunächst Charkiv, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, die etwa 30 Kilometer vor der russischen Grenze liegt. Wir suchen uns eine Unterkunft und schlafen sofort ein. "Habt ihr heute Nacht die Explosionen gehört?" fragt unser junger Dolmetscher Vlad am nächsten Morgen besorgt. Haben wir nicht. Wir haben wohl zu tief geschlafen.

Charkiv wird seit dem ersten Kriegstag beschossen. Viele Menschen lebten wochenlang in den Stationen der U-Bahn, unter der Erde, bis die ukrainische Armee die Front von der Stadt wegdrängen konnte. Seither schlagen noch vereinzelt Raketen ein.

Vlad wurde uns durch die Hilfsorganisation vermittelt. Er zeigt uns das Wohngebiet Saltivka, wo weiße Plattenbauten in den blauen Himmel ragen. Schon von Weitem sehen wir Einschusslöcher in rußgeschwärzten Fassaden. Trümmerberge prägen das Straßenbild.

Vlad ist entsetzt. Er kenne diese Bilder zwar aus den täglichen Nachrichten, doch selbst hier zu sein, sei etwas völlig anderes. "Das ist wie ein Horrorfilm", murmelt er. Uns geht es ähnlich.

Wir sehen nur vereinzelt Menschen. In den 155 Wohnungen des Blocks würden noch acht Familien leben, erzählt uns der Hausmeister Sasha. Ihnen können wir mit einigen der gespendeten Decken helfen.

Der Wiederaufbau liefe zwar, aber die Wohnungen würden nicht mehr rechtzeitig winterfest. "Wir werden uns einen Pullover mehr anziehen", sagt Sasha und lächelt. Mit Handschlag verabschieden wir uns und fahren weiter zur größten Kinderklinik der Region, die im Zentrum von Charkiv liegt.

Für die Klinik haben wir Rollstühle, Babynahrung und ebenfalls warme Decken im Transporter – und einen Sack frisch gepflückter Äpfel. Die haben uns die Besitzer eines Hotels während unserer Herfahrt gegeben und gebeten, das Obst den Menschen in Charkiv zu bringen.

Einer der Kinderärzte, Dr. Olexander Onikiienko, begrüßt uns gerührt. Vor allem über die Rollstühle ist er sichtlich froh, sie werden dringend benötigt. Nachdenklich wird er, als wir erwähnen, dass wir morgen nach Isjum weiterfahren. Dort seien noch Kinder, sagt er besorgt und packt einige Spenden zurück in den Transporter. In Isjum würden die noch dringender gebraucht.

Explosionen in der Nacht

In der Nacht reißt uns ein dumpfer Knall aus dem Schlaf. Eine Rakete. Aber warum ist kein Luftalarm? Und wie weit war das weg? Wir öffnen das Fenster und horchen. Die Straßen sind dunkel und völlig ruhig. In die atemlose Stille kracht die zweite Explosion. Sehr nah. Erst jetzt heulen Sirenen auf. Wir müssen in den Keller, ist unser nächster Gedanke. Im selben Moment folgt der dritte Einschlag. Der Feuerschein taucht das gegenüberliegende Haus kurz in rotes Licht. Schnell ducken wir uns vom Fenster weg, werfen Schutzwesten und Helme über. Die vierte Rakete explodiert, als wir mit zitternden Beinen ins Treppenhaus laufen. Gleichzeitig scheint Gewehrfeuer einzusetzen.

Am Treppenabsatz steht ein Mann im Bademantel, schaut uns verschlafen an und geht zurück in seine Wohnung. Wir laufen die Treppen hinunter. Im Erdgeschoss stehen andere Bewohner dort, wo die Wände am dicksten sind. Lilya und Anton sprechen uns auf Englisch an. Sie hätten die Einschläge von ihrem Fenster aus gesehen. Einige hundert Meter entfernt stünde etwas in Flammen. Was wie Gewehrschüsse klingt, sei vermutlich brennende Munition. Die explodiert wie Knallfrösche zu Sylvester, nur lauter.

Die beiden zünden sich Zigaretten an. Wir verstehen, warum hier im Erdgeschoss ein Kaffeeautomat steht. Wie lange wir schon hier seien, fragen sie uns. "Zwei Tage" sagen wir. "Willkommen in Charkiv" antwortet Anton. Darüber können wir sogar kurz lachen. In den letzten Monaten hätte er sich daran gewöhnt, auch während solchen Lärms zu schlafen, erzählt Anton. Während der heulenden Sirenen und auch während der Explosionen – solange sie nicht zu nahekämen. Diese sind nah.

Anton ist Musiker und möchte mit Auftritten den Menschen ein wenig Abwechslung vom Krieg schenken. Lilya sagt, sie sei zu Beginn des Krieges zunächst in den Westen geflüchtet. Aber sie sei zurückgekommen. Ihre ganze Familie lebe schließlich hier.

Trotz nächtlicher Ausgangssperre verlassen wir mit Anton das Haus. Durch die Dunkelheit gehen wir auf den Feuerschein zu, der die Hausdächer in flackerndes Licht taucht. Die Feuerwehr ist schon da und löscht. Polizisten sichern die von Glas übersäte Straße, auf die Oberleitungen herabhängen. Die Fenster der Häuser hier seien schon sieben oder achtmal erneuert worden, erzählt Anton. Wild fluchend steht ein Mann in Unterwäsche und Wintermantel mitten auf der Fahrbahn. Es scheint seine Wohnung zu sein, die brennt. Wir verlassen die Aufräumarbeiten schnell wieder. Nicht selten werden getroffene Ziele nochmals beschossen, um die Rettungskräfte zu treffen.

Drei Kätzchen namens Javelin, Himars und Stinger

Im Morgengrauen gehen wir noch einmal in die beschossene Straße. In einem Park sammeln Polizisten Raketenteile ein. Russische S-300 seien es gewesen, erklären sie uns. Glücklicherweise habe es nur Sachschaden gegeben. Überall werden die Spuren des Angriffs aufgeräumt. Straßenkehrer schaufeln Trümmer beiseite, Techniker in Hubwagen flicken die zerrissene Oberleitung.

Ein atemloser junger Mann möchte uns etwas zeigen. Er führt uns zu Anna, die zitternd in ihrem Garten steht. Keine 30 Meter vor ihrem kleinen Häuschen tut sich ein riesiger Einschlagstrichter auf. Anna und ihre beiden Kinder leben wohl nur noch, weil der Sprengkopf zufällig in weiches Erdreich traf, das die Explosion abpufferte. Helfer der Stadt sind schon bei ihr und vermitteln eine Unterkunft für die Nacht. Handwerker tragen Bretter herbei, um die Fenster ihres Hauses abzudichten.

Durch den verwüsteten Garten tollen drei junge Kätzchen. Anna drückt sie an sich. Sie heißen Javelin, Himars und Stinger, benannt nach den Raketen, mit denen die russische Armee zurückgedrängt wird.

Am nächsten Morgen brechen wir Richtung Isjum auf. Die Landstraße säumen rote Schilder mit Minenwarnungen. Je näher wir Isjum kommen, umso mehr nehmen die Zerstörungen zu. Für die 120 Kilometer brauchen wir den halben Tag.

In Isjum fahren wir direkt zum Krankenhaus. Die gesamte Aufnahmestation liegt in Trümmern, die Nebengebäude sind wegen Minengefahr nicht zugänglich. Alle Gänge im Hauptgebäude sind dunkel, der wenige Notstrom wird für die OP-Räume gebraucht. In den Krankenzimmern sind zerbrochene Fenster notdürftig mit Brettern ausgebessert. Dass hier noch Kranke und Verletzte versorgt werden können, scheint uns an ein Wunder zu grenzen. Das Gesicht des Chefarztes Dr. Anatoli ist gezeichnet, sein Blick ist sorgenvoll. Gemeinsam laden wir Babygläschen, Nudeln und warme Decken aus. Plötzlich geht ein Notfall ein und der Chefarzt lässt alles stehen und läuft dem Krankenwagen entgegen.

Nachdem ausgeladen ist, was für die Klinik bestimmt war, brechen wir gleich wieder auf, um noch möglichst weit Richtung Lyman zu kommen, das 50 Kilometer südöstlich von Isjum liegt.

Raketen im Asphalt

Nachdem wir in der Nacht die Pontonbrücke passieren konnten, erreichen wir Lyman am frühen Morgen. Die Stadt war vor dem Krieg für ihre Pinienwälder und blauen Seen als die Donezker Schweiz bekannt. Jetzt liegt Brandgeruch in der Luft. Raketenteile stecken in den Straßen. Fast alle Gebäude und jegliche Infrastruktur sind zerstört. Elektrizität, Wasser, Heizung oder Mobilfunk gibt es nicht. Vereinzelt sitzen Menschen stumm vor ihren Häusern und kochen auf Holzfeuern. Andere drehen auf Fahrrädern langsame Runden durch die Stadt und suchen nach allem, was irgendwie noch nützlich sein könnte.

Explosionen von der nur wenige Kilometer entfernten Front sind immer wieder zu hören. Wie viele der Einwohner in Lyman überlebt haben – es ist nicht bekannt.

Auf der Suche nach dem Krankenhaus von Lyman begegnen wir einer Frau, die sich mit gesenktem Blick die Straße entlang schleppt. Sie fragt uns nach Zucker und beginnt dann zu erzählen. Es kommt nur so aus ihr heraus, sie scheint gar nicht mehr aufhören zu können, sich ihren Kummer von der Seele zu reden. Wir verstehen nicht viel, nur, dass sie Franzi heißt, von der annektierten Krim geflohen sei und keine Papiere mehr habe.

Vor dem Rathaus stehen in kleinen Gruppen Menschen und warten. Sie wirken erschöpft, aber auch entschlossen, weiter auszuharren. Die wenigen Kinder, die wir sehen, spielen nicht, sie halten sich an den Händen ihrer Eltern fest. Sie warteten auf einen Konvoi des Roten Kreuzes, der solle heute kommen, erklärt uns ein junges Mädchen.

Im Krankenhaus, das wir schließlich finden, erfahren wir, dass bereits alle zivilen Stationen evakuiert wurden. Ein Militärarzt sagt uns, die Feuerwehr hätte die humanitäre Hilfe übernommen.

Wir fahren weiter zur Feuerwehrstation. Sie ist eines der wenigen noch intakten Gebäude der Stadt. Hier hätten die Russen Medikamente aus geplünderten Apotheken gelagert, erzählt uns der 35-jährige Artem, einer der Feuerwehrmänner. Die Russen hätten in der Station gehaust wie in einem Schweinestall, und bei ihrem Abzug erfolglos versucht, alles in Brand zu setzen. Die russischen Soldaten seien einfach nur "Orks".

Ohne Wasser seien der Feuerwehr derzeit keine Löscheinsätze möglich, erklärt Artem weiter. Deshalb haben sie nun die Verteilung von Hilfsgütern übernommen.

Am Mittag hält der angekündigte Konvoi des Roten Kreuzes vor dem Rathaus. Die Freude der Wartenden ist riesig. Mit leuchtenden Augen umringen sie die Helfer, die ihnen erklären, dass die Hilfsgüterverteilung zunächst mit dem Bürgermeister koordiniert werde.

Die letzten Spenden

Am Nachmittag verlassen wir Lyman schon wieder. In der Abenddämmerung erreichen wir erneut die Pontonbrücke. Als Marion aussteigt, um den Transporter über die beiden schmalen Stege zu winken, stoppt neben ihr ein Militärfahrzeug. Der Fahrer kurbelt das von grauem Staub bedeckte Fenster herunter. Mit einem Lächeln reicht er Marion eine Rose und sagt: "Danke!" Es ist eine Geste voll Hoffnung zwischen all den Schrecken dieses Krieges.

Als wir ein zerschossenes Dorf passieren, sehen wir eine alte Frau mutterseelenallein an einer Bushaltestelle sitzen. Ein Bus wird hier nicht kommen. Wir halten und geben der Frau die verbliebenen zwei Konservendosen. Sie öffnet ihre Geldbörse. Wir schütteln den Kopf und stecken die Dosen in ihre Einkaufstasche. Die alte Dame schaut uns sprachlos an, dann bricht sie in Tränen aus. Sie segnet uns, ergreift unsere Hände und küsst sie.

Nur zwei in Geschenkpapier verpackte Kartons mit Spielzeug liegen noch auf der Ladefläche unseres Transporters. SmileforUkraine, eine niederländische Initiative, hatte sie uns mitgegeben. Auf den Rückweg durch Isjum machen wir damit einem Jungen und einem Mädchen eine kleine Freude.

Wir fahren zurück nach Deutschland. Unser Transporter ist leer. Unsere Köpfe sind voller Bilder.

PS: Inzwischen sind wir seit über einem Monat wieder in Deutschland. Langsam spüren wir, wie unsere Anspannung und die ständige Wachsamkeit nachlassen. Vor wenigen Tagen schrieb uns Artem, wie er bei seinen Kollegen Erste Hilfe leisten musste. Die Feuerwehrstation sei mit Raketen angegriffen worden.