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Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen

Noch nie in seinem Leben hat Hans so viele Menschen gesehen, so viele Sprachen gehört. Hans ist ein Pferdeknecht aus Tirol und kommt am 30. Juli 1914 mit dem Zug in Wien an. Er ist völlig überwältigt, kann sich kaum sattsehen am regen Treiben im Zentrum der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.

Die Wiener Schriftstellerin Raphaela Edelbauer hat mit Hans eine überzeugende Perspektive gewählt, und sie gibt ihrer Hauptfigur einen unverstellten, neugierigen Blick auf die Ereignisse. Auf den Straßen fordern kriegsbegeisterte junge Männer die Generalmobilmachung – nach dem Attentat von Sarajewo zwei Tage zuvor, bei dem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin ermordet wurden, steht Wien Kopf.

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Hans will sich jedoch keineswegs freiwillig zum Kriegsdienst melden: Er sucht die Psychoanalytikerin Helene Cheresch auf, von der er erstaunliche Dinge gelesen hat. Offenbar ist sie Expertin für Parapsychologie. Da Hans glaubt, ins Denken anderer Menschen blicken zu können, scheint Cheresch die Richtige für ihn zu sein. Es zeugt von großer Erzählkunst, wie Raphaela Edelbauer das Aufeinandertreffen von Hans und der Psychoanalytikerin beschreibt. Der Pferdeknecht hat noch nie eine so selbstbewusste, moderne Frau erblickt, die sich sogar tatsächlich für seine Fähigkeiten interessiert. Kurz darauf trifft Hans auf eine weitere faszinierende Person: Klara, eine junge Feministin, die als eine der ersten Frauen an der Universität Wien im Fach Mathematik promovieren wird und ebenfalls Klientin bei Cheresch ist. Klara stellt Hans schließlich einen blassen jungen Mann vor – Adam, einen musisch begabten Adeligen, der wegen seltsamer Träume zur Psychoanalyse geht.

Innerhalb weniger Stunden entsteht eine verwirrende Vertrautheit zwischen den drei Figuren. Hans, Klara und Adam wirbeln gemeinsam durch Wien und besuchen düstere Lokalitäten im Untergrund. Hans lernt Prostituierte und Adelige kennen, Offiziere und Homosexuelle, Lumpenproletarier und Kriegsbegeisterte. Der Erste Weltkrieg rückt mit jeder Stunde näher, während das ungewöhnliche Trio von einer Kneipe zur nächsten stolpert, über Philosophie und Metaphysik diskutiert und eine magische Zeit miteinander verbringt. Vor realem historischem Hintergrund entfaltet Raphaela Edelbauer virtuos ihre funkelnde Geschichte über drei junge Menschen, die sich der Kriegsbegeisterung entziehen und ihre Träume zu ergründen versuchen. Günter Keil

Roman, Klett-Cotta Verlag 2023, 352 S., 25€

Line Joven / Jochen Schmidt: Paargespräche

Sie denken, Karl Marx’ Markenzeichen sei das kommunistische Manifest? Pah, ganz falsch! Es ist der Vollbart, den er zudem gar nicht freiwillig getragen hat, sondern weil er sonst neben Engels so komisch ausgesehen hätte.

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Auch dass die Ehe zwischen Elon Musk und der Musikerin Grimes aufgrund seines sprechenden Autos geplatzt ist, war Ihnen unbekannt? Das geht ja gar nicht. Es sind natürlich gar keine echten, sondern fiktive und sehr geistreiche Gespräche, die Autor Jochen Schmidt und die Illustratorin Line Joven berühmten Paaren (Herzog / Kinski, Astaire / Rogers, Ono / Lennon u. a.) in den Mund gelegt haben. Einer der Höhepunkte ist das Gespräch zwischen Bud Spencer und Terence Hill, die sich so lange über gewaltfreie Kommunikation unterhalten, bis einer der beiden dringend eine Prügelei benötigt. Die Hintergrundinfos, die Line Joven zu den jeweiligen Paaren gesammelt hat, beruhen hingegen auf Fakten, die nicht minder erstaunen: Das erste Treffen der Schwiegerväter Graf / Agassi wäre fast in einem Faustkampf geendet, wtf? Jenny Mansch

Mairisch Verlag, 88 S., 22 €

Eva Müller: Scheiblettenkind

Mit dem Titel fängt es schon an: Scheiblettenkind. Wer wohlhabend aufgewachsen ist, wird das kaum verstehen. Denn Scheibletten, das ist die Bezeichnung für einen billigen Käse, der in Plastik eingepackt ist und auch so schmeckt.

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Im Supermarkt findet man ihn meist nicht beim „gehobenen“ Käse. So, wie man Menschen mit Armutserfahrung meist nicht an „gehobenen“ Schulen findet. Fast immer ist der Grund dafür ein Bildungssystem, das Menschen nach sozialer Herkunft sortiert. Um die Schwere des Seins, die eine solche Gesellschaft erzwingt, geht es in Eva Müllers autofiktionaler Graphic Novel. In räudigen Schwarz-Weiß-Bildern und einer zwischen Lakonie und Lebenslust mändernden Sprache erzählt sie die Geschichte eines Arbeiterkindes, das studiert und Künstlerin wird. Das Buch glänzt vor allem durch viele originelle Einfälle. Da lachen etwa die Punks aus „gutem Hause“ über den Musikgeschmack der Protagonistin: Common People von Pulp! Immer wieder taucht eine Schlange auf, die der Ich-Erzählerin einredet, sie sei nicht gut genug für den „sozialen Aufstieg“. Und am Ende jedes Kapitels fasst ein Karl Marx in Hipstergestalt das zuvor Berichtete mit Wahrheiten aus dem 19. Jahrhundert zusammen, die leider bis heute gelten. Christian Baron

Suhrkamp, 279 S., 28 €