Ausgabe 01/2023
Ein Tschüß, aber nur ein halbes…
Anfang Dezember hat der Landesbezirksvorstand von ver.di Hamburg Sandra Goldschmidt, Heike Lattekamp und Ole Borgard als Kandidat*innen für die neue Landesbezirksleitung nominiert. Am 24. Februar wird gewählt. Sieglinde Frieß, stellvertretende Landesleiterin in ver.di Hamburg tritt nicht mehr an.
ver.di publik: Warum trittst Du nicht mehr an?
Sieglinde Frieß – Ich scheide aus Altersgründen aus. Wohl werde ich anschließend noch einige Zeit an Bord bleiben, aber eine ganze Wahlperiode geht über mein Renteneintrittsalter hinaus. Die Entscheidung war für mich nicht einfach, da ich mit Leib und Seele Gewerkschafterin bin und der Kampf für soziale Gerechtigkeit immer ein großes Anliegen für mich ist.
Was "hinterlässt" Du Deinem Nachfolger/Deiner Nachfolgerin?
Ich habe mein Aufgabenfeld gut bestellt. Unsere Beschäftigten bei ver.di sind hervorragend ausgebildet und eingearbeitet. Verschiedene Umorganisationen konnten ohne Zwang für Einzelne erfolgreich durchgeführt wurden. Das Thema Daseinsvorsorge ist in ver.di Hamburg tief verankert und die Frage der sozialen Absicherung ist breit diskutiert. Auch die Koordination der Tarifpolitik ist weiterentwickelt und wird immer wieder neu justiert. Ich bin sehr zufrieden!
Auf was bist Du mit Blick auf Deine Arbeit besonders stolz, was hättest du lieber anders gehabt oder gemacht?
Stolz bin ich erst mal auf die vielen aktiven Kolleg*innen, die ich kennenlernen durfte und mit denen ich zum Teil Jahrzehnte lang zusammengearbeitet und – wenn es notwendig war – auch gekämpft habe. Besonders stolz bin ich exemplarisch auf vier Bereiche, an denen ich intensiv mitgewirkt habe und deren Erfolge bis heute Nachhaltigkeit zeigen.
Erstens ist das die Tarifrunde der Länder 2006: Wir mussten 114 Tage streiken, um große Eingriffe abzuwehren. Mit tollen Kolleg*innen aus den Betrieben und Dienststellen mussten wir Hochleistung zeigen. Nur das Gemeinsame hat uns durchhalten lassen.
Zweitens haben wir das Thema Kindeswohlgefährdung in Hamburg wochenlang in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit gestellt und damit letztendlich erste Schritte für Verbesserungen erzielt.
Als Drittes nenne ich den Einsatz für Umverteilung und soziale Gerechtigkeit. Eine reiche Stadt wie Hamburg erwartet, dass niemand frieren und hungern muss. Sich gemeinsam dagegen aufzulehnen, ist mühsam, aber wertvoll.
Und last but not least ist es die Zusammenarbeit mit Fridays For Future und allen anderen Organisationen, die für eine Klimawende eintreten.
Mit fällt nichts ein, was ich grundsätzlich anders machen würde. ver.di ist lebendig und vielseitig, ich bin dankbar ein Teil davon zu sein.
Welche Herausforderungen siehst Du auf ver.di Hamburg und auf die Gewerkschaften insgesamt zukommen?
Es ist viel zu tun. Der Kapitalismus hat sich mittlerweile fast in Reinkultur durchgesetzt, und es ist absolut schwierig, ihm "Teile vom Kuchen" abzutrotzen. Das sieht man bei Tarifflucht, Verkauf, Verlagerung, Abbau und Privatisierung. Gerade auch Corona, Krieg und Energiekrise machen deutlich, wer hier absahnt anstatt abzugeben.
Für uns muss das heißen, sich noch stärker zusammenzutun, übergreifender zu denken und zu arbeiten und die Themenfelder zusammenzuführen. Tarifpolitik allein reicht nicht. Wir müssen gleichzeitig für besseres und billigeres Wohnen, niedrigere Preise und höhere Leistungsansprüche eintreten. Nur das Ganze macht ein gutes Ergebnis. Auch die Nachhaltigkeit muss in unsere Köpfe und Herzen, denn nur wenn wir jetzt für Verbesserungen kämpfen, ist auch das morgige Leben gesichert.
Bei welchen Themen wirst Du Dich in Zukunft gesellschaftlich einbringen?
Meine wichtigen Themen sind Nachhaltigkeit, Antirassismus, Geschlechtergerechtigkeit und der Kampf für einen guten Sozialstaat. Ein "die Füße hochlegen" liegt mir nicht. Aber länger schlafen werde ich.
Wen wirst Du vermissen und auf wen kannst Du in Zukunft herzlich gern verzichten?
Verzichten kann ich auf die oft mühselige Bürokratie in einer Organisation oder Tarifverhandlungen. Mir dauert oft vieles zu lange, obwohl ich weiß, dass wir alle mitnehmen müssen. Vermissen werde ich die vielen Kolleg*innen – hauptamtlich wie ehrenamtlich – mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Ihnen gilt auch mein besonderer Dank. Ich hoffe, dass ein Wiedersehen an der ein oder anderen Stelle möglich ist.
Gibt es einen Ratschlag für die Zukunft, den Du ver.di Hamburg ins Buch schreiben möchtest?
Seid weiterhin widerborstig und kämpferisch. Anpassung ist nicht der richtige Weg für Veränderung. Und passt auf euch auf!
Interview: Heike Bettermann