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Foto: Screenshot Al Jazeera/YouTube

Édouard Louis, Ken Loach: Gespräch über Kunst und Politik

Der Blick auf öffentliche Debatten vermittelt derzeit den Eindruck, es gäbe einen großen Generationenkonflikt. Die Logik geht in etwa so: Wer vom Kalten Krieg geprägt ist, hat im Angesicht der russischen Invasion in der Ukraine große Angst vor einem finalen Atomkrieg. Millennials dagegen halten es für moralisch geboten, ein militärisch attackiertes Land mit allen nötigen Mitteln zu verteidigen. Anderes Beispiel: Für Ältere bildet die Soziale Frage den Kern linken Denkens, die Jüngeren haben nur Identitätspolitik im Kopf. Dass es in Wahrheit deutlich komplexer ist, beweist ein schmaler Band, der Gespräche zwischen dem französischen Schriftsteller Édouard Louis und dem britischen Regisseur Ken Loach dokumentiert.

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Der 1992 geborene Louis hat sich einen Namen gemacht mit autobiografisch fundierten Romanen über sein Aufwachsen in Armut und seinem antikapitalistischen Aktivismus. Loach, Jahrgang 1936, ist klassischer Marxist. Seit Jahrzehnten steht in seinen Filmen die Perspektive der "einfachen Leute" im Mittelpunkt. Dass beide nun zusammengefunden haben, ist ein Glück. Denn die hier abgedruckten Dialoge sind zugleich unaufgeregte und pointierte Diskussionen zweier Gesinnungsgenossen. Zu Beginn fungieren sie füreinander noch als Stichwortgeber und Laudatoren. Das reicht von Klagen über Millionen hungernder Kinder im reichen Westen über Lust und Last der Erwerbsarbeit bis hin zu Interpretationen der Werke des jeweils anderen. Kontrovers wird es vor allem in den Zwischenspielen, wenn Fragen aus dem Auditorium in den Text eingestreut werden – die Gespräche fanden ursprünglich fürs Fernsehen vor Publikum statt. Wie finden Ausgegrenzte eine Stimme? Loach plädiert für Gewerkschaften, Louis sieht die befreiende Wirkung der Kunst. Und wie halten es die beiden mit der Empathie? Für Loach erwächst sie aus Solidarität, Louis sind diese Begriffe zu abstrakt: "Wie soll man die Welt verändern, wenn die Leidenden sich des Leidens schämen?" Er wünscht sich mehr Konfrontation, auch mehr Selbst- und Klassenbewusstsein von unten und weniger linke Bevormundung – für die die Generation des Ken Loach teilweise bis heute steht. Zu Themen wie Homophobie oder Sexismus haben beide unterschiedliche Zugänge, doch verbinden sie diese "Identitätspolitik" mit der Sozialen Frage, ohne dass es einer Debatte darüber bedarf. Damit zertrümmern sie ganz nebenbei noch ein paar uralte Klischees. Christian Baron

S. Fischer, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 80 S., 17 €

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Goldeimer: Kochen für den Arsch

Wie man dem Dauerbrenner-Thema "Darm" noch eine originelle Wendung abtrotzen kann, zeigt dieses Kochbuch, das die Dinge ganz unverklemmt beim Namen nennt. "Mehr Ästhetik in der Schüssel" versprechen insgesamt 40 "darmgesunde" Rezepte, die dem wichtigen Organ und seiner empfindlichen Flora gut tun. Denn wie wir heute wissen, fühlt sich der Kopf nur dann wohl, wenn im Darm alles seine Ordnung hat. Wie man die (wieder) herstellt, wird mit vielen wissenswerten Daten und Illustrationen vermittelt – typisch für das erfolgreiche "Katapult"-Medien-Universum aus Greifswald, zu dem jetzt auch ein Verlag gehört. So erfahren wir etwa, dass unser Essen sich mit der Geschwindigkeit von 0,00016 Kilometer pro Stunde vom Gaumen bis zum Klo herabwälzt oder dass Finnland die meisten öffentlichen Toiletten bereitstellt. Herausgegeben wird dieses konstruktive und lustige Kochbuch vom gemeinnützigen Projekt Goldeimer aus Hamburg, das sich für einen Zugang zu Toiletten für alle sowie nachhaltige Sanitärsysteme engagiert und sich mit Trockenklos auf Festivals zunehmend einen Namen macht. Jenny Mansch

Katapult-Verlag, 40 Rezepte mit Abbildungen, 127 S., 20 €

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Virginie Despentes: Liebes Arschloch

Dieser radikale Briefroman startet mit Beschimpfungen. Eine berühmte Schauspielerin (Rebecca) und ein erfolgreicher Schriftsteller (Oscar) schreiben sich Mails. Grund ist ein vernichtender Kommentar Oscars über Rebecca auf Social Media. Dennoch stellen beide bald Parallelen fest: Sie haben ihre besten Zeiten hinter sich und sind schon lange drogensüchtig. Virginie Despentes zeigt die beiden als hasserfüllte Promis, die teils zynisch, teils selbstkritisch auf ihr Scheitern und die moderne Welt blicken. Ihre Mails lesen sich wie eine Abrechnung mit der Kulturbranche, mit Internetaktivismus, Radikalfeminismus und sozialen Medien. Die Schonungslosigkeit macht diesen Roman zur aufregenden, politisch unkorrekten Lektüre. Hinter der rauen Schale steckt jedoch der Versuch von Verständnis und Versöhnung – Rebecca und Oscar lernen, sich zuzuhören. Zoe dagegen, eine Influencerin, die Oscar einen #MeToo-Skandal angehängt hatte, landet in der Psychiatrie. Ihre Posts unterbrechen den Schlagabtausch zwischen Rebecca und Oscar. Es kracht und knallt also, und doch lautet die Botschaft hier: Habt euch endlich lieb, ihr Arschlöcher! Günter Keil

Kiepenheuer & Witsch, Ü: Ina Kronen-berger/Tatjana Michaelis, 336 S., 24 €