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Prof. Dr. Marcus Kleiner, Kommunikations- und MedienwissenschaftlerFoto: Westwind Medien

Die Geschäftsmodelle von YouTube, Netflix, Spotify und Co. begünstigen unsichere Beschäftigungsverhältnisse und geringe Löhne, bei den Künstler*innen, die die Inhalte liefern, kommt viel zu wenig an. In dem Buch "Streamland: Wie Netflix, Amazon Prime & Co. unsere Demokratie bedrohen" untersucht Marcus S. Kleiner die Auswirkungen der Streaming-Medien auf unsere Gesellschaft, insbesondere die Gefahren für unsere Demokratie.

ver.di publik: Muss ich beim Streamen ein schlechtes Gewissen haben? Nicht nur wegen des Klimawandels, sondern auch wegen der prekären Arbeitsverhältnisse der Film- und Musikschaffenden?

Kleiner: Bei Fragen der Ethik geht es um die Frage der Entscheidungen. Wenn ich über die Idee einer solidarischen Gemeinschaft nachdenke, muss ich mir die Frage stellen: Welche Machtmonopole stärkt mein Handeln und welche Konsequenzen hat mein Handeln auf eine Gemeinschaft? Und das sind in dem Falle Künstler*innen, Filmschaffende, Musiker*innen, eine ganze Industrie, die hinter den Plattformen steht. Digitalisierung steht für Befreiung und die Geschichte des Internets steht für eine Freiheitsgeschichte, eine andere Freiheitsgeschichte. Power to the people. Und das ist sozusagen die Schieflage, die ich sehe, wenn es um die Frage der Ethik geht. Das individuelle Wollen trifft auf eine kollektive Verantwortung.

Also geht es eigentlich auch darum, dass wir bewusster konsumieren? Ich mache mir zumindest klar, was hinter der Plattform steckt und welche Folgen mein Konsum hat und entscheide mich bewusst für oder gegen eine Plattform?

Genau. Beim Streaming muss man sich das sehr genau fragen – und das ist ein Riesenproblem, weil Streaming ein Monopolbusiness ist und Monopole sind antidemokratisch. Und wenn wir Monopole fördern, dann fördern wir auch sozusagen einen Verlust an Demokratie. Das ist die Konsequenz, die jeder mitträgt, alle von uns.

Wir haben als Konsumenten und Verbraucherinnen natürlich einen gewissen Spielraum, Verantwortung zu übernehmen. Aber wenn ich mir die Arbeitsbedingungen von Kulturschaffenden in Film, Musik etc. hinter den Plattformen anschaue, sind die Optionen von Verbraucher*innen auch begrenzt. ver.di hat kürzlich erste Tarifverträge mit Sky und Netflix abgeschlossen. Die gelten für die Filmschaffenden vor und auch hinter der Kamera. Aber brauchen wir nicht auch staatliche Regularien bzw. politische Einflussnahme?

Da ist die Frage, wie viel Demokratiefähigkeit traut man den Nutzerinnen, den Bürgerinnen denn wirklich zu? Und auf der anderen Seite ist das Problem, dass das alles Privatunternehmen sind – meistens haben sie ihren Sitz auch nicht in Deutschland, was die juristische Intervention schwierig macht. Insofern ist auch hier die Frage der Regulierung schwierig und hat nationale und rechtliche Grenzen. Ich meine, schau dir an, ein Mann hat einfach aus seiner Portokasse Twitter gekauft.

Aber sobald die Mitarbeitenden in Deutschland sitzen, und das sind bei Twitter nur noch eine Handvoll, hat man Einfluss auf die Arbeitsbedingungen. Die sind jetzt bei uns organisiert, denn Elon Musks Handeln geht natürlich über Landesgrenzen hinaus. Nur: Wir haben keinen Einfluss auf die Geschäftspolitik. Wie können wir Verbraucher*innen Einfluss nehmen?

Die Frage, die man zurückspiegeln muss, ist eigentlich eine andere: Warum sind wir so abhängig von Unterhaltung? Die Macht des Kapitals besteht in der Macht, der Verführung – also uns dazu zu verführen, dass wir glauben, etwas zu brauchen, obwohl wir es gar nicht mal so hart brauchen. Unsere Gesellschaft lebt durch die Knappheit von Ressourcen. Das Digitale lebt über die Vorstellung unendlichen Reichtums. Und das ist eine völlig irreale Wirklichkeitserfahrung.

Müssen wir einfach Achtsamkeit üben in unserem digitalen Nutzerverhalten, unserem digitalen Konsum?

Ich plädiere für die Reduktion von Komplexität. Wir sollten überlegen: Was ist wirklich relevant? Und das ist dann eine Form der Achtsamkeit, wo du wirklich versuchst, sozusagen eine Ökologie des Selbst zu erzeugen.

Wenn du die Möglichkeit hättest, alle Streaming-Plattformen für einen Tag zu leiten, welche Maßnahmen würdest du dort etablieren?

Streaming ist ja Echtzeit-Marktforschung in jeder Sekunde. Also ich würde an einem Punkt ganz klar einen Personalisierungsbutton einführen. So bekomme ich die Option der Anonymität, damit der Algorithmus mich nicht so kontrollieren kann. Außerdem würde ich kuratieren und diese Kuration auch nachvollziehbar begründen. Kuration heißt dann auch, bestimmte Produktionen, die vielleicht nicht so populär sind, in den Vordergrund zu stellen, aber trotzdem auch den Mainstream bedienen.

Und dann würde ich ausmisten – die Komplexität der Plattformen reduzieren, und dabei den Dialog mit den Nutzerinnen und Nutzern suchen. Also ganz, ganz aktiv. Mehr Feedbackschleifen. Und ganz wichtig wäre für mich, Transparenz zu schaffen über die Funktionsweise des Algorithmus und die Programmauswahl und mehr. Es ist wichtig, Prozesse offenzulegen, denn dann können sich die Verbraucherinnen und Verbraucher auch bewusst entscheiden.

Interview: Rita Schuhmacher