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Foto: Sesse Lind/Linkimage/plainpicture

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen

Im Schwimmbad wird der Lärm in ­ihren Köpfen leiser. Beim Bahnen ziehen stellt sich ein Gefühl von Geborgenheit und Ordnung ein. Für die Menschen in Julie Otsukas neuem Roman fungiert das Becken eines öffentlichen Bades als Zufluchtsort und Zuhause: „Das Schwimmbad ist ihr Allerheiligstes, ihr Refugium, der einzige Ort auf Erden, wo sie ihrem Schmerz entkommen können, denn nur dort unten, im Wasser, finden ihre Symptome Linderung.“ Im Wasser tummeln sich Designer, Nonnen, Hundesitter, Veganerinnen, Polizisten und Professorinnen – sie stammen aus nahezu allen gesellschaftlichen Schichten.

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Die amerikanische Schriftstellerin zeichnet das faszinierende Porträt einer heterogenen Gemeinschaft; einer Gruppe von Schwimmenden, die sich regelmäßig gegenseitig im Bad beobachten und grüßen, aber in Ruhe lassen. Denn es eint sie der Wunsch, allein im Wasser zu sein, losgelöst von allem, auch von der Verpflichtung zur Konversation. Auch für Alice, eine ältere Frau, bedeuten die Bewegungen im Wasser alles. Doch Alice leidet an Demenz, und schon bald wird sie ihre Lieblingsbeschäftigung aufgeben müssen. Risse entstehen in ihrem Gedächtnis, und seltsamerweise auch am Beckengrund des Bades.

Aus der Wir-Perspektive beschreibt Otsuka im ersten Teil das rhythmische Auf und Ab der Schwimmzüge und die Eigenheiten der verschiedenen Schwimmer*innen. In einem ruhigen, klaren Ton erfasst sie alle Facetten des Wassersports. Dann ­kippen Handlung und Sprache überraschend in eine andere Richtung: In Teil Zwei erzählt Alices Tochter von der fortschreitenden, unheilbaren Krankheit ihrer Mutter. Ihr wird bewusst, wie wenig sie sich in den vergangenen Jahren mit Alice beschäftigt hat, und sie bemerkt erst jetzt, dass sie ihre Mutter noch nie zu sich nach Hause eingeladen hat. Fragen tauchen aus ihrem Inneren auf: Was schuldet sie Alice, nun, da diese sich auf einer unaufhaltsamen kognitiven Talfahrt befindet? Ist sie ihrer Rolle als Tochter eigentlich gerecht geworden?

Die Art, wie Julie Otsuka vom Mikrokosmos des Schwimmbades zur Mutter-Tochter-Beziehung schwebt, von Gemeinschaft zu Einsam- und Zweisamkeit, ist außergewöhnlich. Ihr kurzer Roman spiegelt meisterhaft die großen Themen Liebe und Verlust, Trauer und Erinnerung. In einer Pflegeeinrichtung endet er. Besser kann man kaum über Lebensverläufe und Beziehungen schreiben.

Günter Keil

Mare Verlag, übersetzt von Katja Scholtz, 160 S., 22 €

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Johanna Sebauer: Nincshof

Am äußersten östlichen Zipfel Österreichs, direkt an der ungarischen Grenze, liegt Nincshof. Ein unscheinbares Dorf, doch in einem besonders heißen Sommer geschehen dort sonderbare Dinge. Drei Bewohner nennen sich „die Oblivisten“ und arbeiten daran, dass man Nincshof vergisst. Sie bauen Ortsschilder ab, löschen Online-Einträge und vergraulen Touristen. Sie wollen ihre Ruhe haben, von der großen weiten Welt nicht gestört werden und raus aus der hektischen Zeit. Ihr Plan: Wenn niemand mehr von Nincshof weiß, kann das ganze Dorf in Freiheit und Ruhe leben. Laut Legende ist das früher schon einmal so gewesen, als Nincshof in einem Sumpf verborgen war. Johanna Sebauer erzählt ein modernes Märchen, das wie eine Anti-­Globalisierungs-geschichte daherkommt. Ein literarisches Augenzwinkern zieht sich durch den Plot, in dem eine alte Bewohnerin in die Machenschaften der Oblivisten hineingezogen wird und ein zugezogenes Paar aus Wien deren Pläne durchkreuzt. Der sympathisch-skurrile Roman wird zur Hommage an alle Dorflegenden und jene, die sie nähren. Getrunken wird in Nincshof übrigens Pusztafeigenschnaps – ein Hochprozentiger, der gegen so ziemlich alles hilft, auch gegen das Erinnern.

Günter Keil

DuMont 2023, 368 S., 23 €

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Anne-Ruth Wertheim: Das Gänsespiel

Manchmal können ein Stapel Papier und ein paar Buntstifte das Überleben sichern. So wie der kleinen Anne-Ruth und ihren Geschwistern. 1934 kommt sie in Jakarta zur Welt, damals eine Kolonie der Niederlande. Als sie acht ist, marschieren die japanischen Truppen ein. Anne-Ruth und ihre Familie werden sofort wie alle Niederländer inhaftiert, doch kann die Mutter vor dem Abtransport Papier und Stifte einpacken. Im Lager zeichnet sie auf einen Karton das Gänsespiel, das sie daheim oft gespielt hatten. Sie passt das Spiel den Verhältnissen im Lager an, die drei Kinder würfeln sich ans Ziel, möglichst ohne in die schlimmsten Abteilungen des Lagers zu kommen. Die kleine Anne zeichnet in recht virtuosen Miniaturen Szenen aus dem Leben im Lager, das besonders unbarmherzig wird, seit sie als „Halbjuden“ in die nach dem Vorbild der Nazis eingerichteten jüdischen Lager kommen. Erst 1994 schreibt sie als Erwachsene Texte zu ihren wiedergefundenen Zeichnungen und Fotos, das Gänsespiel erscheint auf Holländisch, dann fast weltweit, und nun endlich auch auf Deutsch. Anne-Ruth haben diese Jahre so geprägt, dass sie sich bis heute aktiv gegen Rassismus und Krieg einsetzt. Auch mit diesem Buch.

Jenny Mansch

Baobab Verlag 2023, ab 8 J., Ü: Ingrid Ostermann. 52 S., 22 €