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El Salvador, für Gewerkschaften "das größte Gefängnis Lateinamerikas"Foto: Melendez/picture alliance/AP

Am 1. Juni 2019 trat El Salvadors Präsident Nayib Bukele sein Amt an. Am Tag darauf entließ er über sein Ministerkabinett willkürlich 700 Angestellte der Präsidialverwaltung. Kaum im Amt trat Bukele die Arbeitsrechte Hunderter Beschäftigter mit Füßen. Allerdings sollte das nur der Anfang sein.

"Seit die Regierung an die Macht gekommen ist, verletzt sie Arbeitnehmerrechte und geht gegen die Gewerkschaften vor", sagt Sonia Urrutia, Generalsekretärin des Gewerkschaftsverbandes Federación Sindical de Trabajadores para la Justicia Laboral de El Salvador (Festrajusal), gegenüber ver.di publik. Willkürliche Entlassungen, Lohnvorenthalt, Deregulierung sowie Verfolgung und Kriminalisierung gewerkschaftlicher Organisation sind laut Urrutia im öffentlichen und privaten Sektor in El Salvador mittlerweile an der Tagesordnung.

Massenentlassungen im öffentlichen Dienst

"Eine der ersten Maßnahmen der Regierung Bukele waren Massenentlassungen im öffentlichen Sektor", so Urrutia. Die Regierung habe ihre Mehrheit im Parlament genutzt, um verschiedene öffentliche Einrichtungen aufzulösen, sowie Beschäftigte im öffentlichen Dienst zwangsweise in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen. Tausende Arbeitnehmer verloren ihre Jobs ohne angemessene wirtschaftliche Entschädigung.

"Bis Ende April wurden mehr als 19.000 Personen im öffentlichen Dienst entlassen", erklärt Wilfredo Berrios, Generalsekretär der Gewerkschaftsfront Frente Social y Sindical Salvadoreño (FSS). "Auf der anderen Seite wurden auch ganz viele neu eingestellt. Aber die, die eingestellt wurden, sind Anhänger der Regierung oder der Regierungspartei Nuevas Ideas."

Gleichzeitig habe die Regierung die Gewerkschaften "gekidnappt", sagt er. So verzögert das Arbeitsministerium die Ausstellung von Bescheinigungen für die Eintragung von Gewerkschaftsvorständen. "Sie werden so gezwungen, neue, parallele Führungen zu wählen, die regierungsnah sind oder mit den Unternehmern unter einer Decke stecken", sagt Berrios. Anderen Gewerkschaften werden die Zulassungen entzogen. Mehr als 500 Gewerkschaftsorganisationen seien insgesamt betroffen. "Die Regierung illegalisiert die Gewerkschaften", sagt die Gewerkschafterin Urrutia.

"Die Gewerkschaften sind unter dieser Regierung viel Willkür ausgesetzt", sagt sie. "Bis zu dem Punkt, dass Gewerkschafter verfolgt werden." Derzeit seien 16 Mitglieder von fünf kommunalen und einer öffentlichen Gewerkschaft illegal inhaftiert, "einfach aufgrund der Tatsache, dass sie ihre Rechte eingefordert haben". Ein Gewerkschafter starb in staatlicher Haft aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung.

Berrios spricht gar von 30 bis 40 Gewerkschafter*innen in Haft oder mit anhängigen Gerichtsverfahren. Proteste gegen die Nichteinhaltung von Tarifverträgen oder wegen ausstehender Lohnzahlungen würden kriminalisiert. In anderen Fällen geht es um Räumungen oder Vertreibungen, um Bergbauprojekte durchzusetzen, sagt er. "Die Protestierenden werden von der Polizei mitgenommen, krimineller Handlungen bezichtigt oder diffamiert, sie gehörten zu den Maras, und dann ins Gefängnis gesteckt." Der Vorwurf, den kriminellen Mara-Banden anzugehören, reicht heute in El Salvador aus, um im Gefängnis zu landen.

Seit 17 Monaten Ausnahmezustand

In den ersten Regierungsjahren sorgte ein Pakt zwischen Regierung und Maras für relative Ruhe. Als dieser Pakt brach und die Maras ein Massaker mit 87 Toten verübten, reagierte Präsident Bukele mit großer Härte. Das von seiner Partei kontrollierte Parlament bewilligte Ende März 2022 den Ausnahmezustand, der Grundfreiheiten einschränkt. Das Versammlungsrecht wurde beschnitten; statt 72 Stunden dürfen Verdächtige nun mehr als zwei Wochen festgehalten werden, ohne das Recht auf einen Anwalt. Auch nach 17 Monaten ist der Ausnahmezustand weiter in Kraft.

"In der Praxis wird er gegen die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen eingesetzt", sagt Urrutia. Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung willkürliche Verhaftungen und Folter vor. Nur bei rund einem Drittel der Festgenommenen handele es sich tatsächlich um Mitglieder krimineller Banden. In der Bevölkerung genießt Bukele ob seines erbarmungslosen Vorgehens großen Rückhalt. Bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr will er erneut antreten, obwohl die Verfassung eine zweite Amtszeit verbietet.

"Er hat Parlament, Verfassungsgericht, Exekutive und die Wahlbehörde unter seiner Kontrolle – er macht also, was er will", sagt Berrios. Das "Nein zur Wiederwahl" gehört heute zu den Hauptforderungen der Gewerkschaften.

"Die salvadorianische Gewerkschaftsbewegung benötigt dringend, dass die internationale Gemeinschaft sich äußert", sagt Urrutia. "Viele Gewerkschafter mussten schon außer Landes fliehen. Früher wurden wir von kriminellen Banden verfolgt, heute ist es die Regierung, die uns verfolgt."

El Salvadors Gewerkschaften in Zahlen

Im August 2021 zählte das salvadorianische Arbeitsministerium (MTPS) 950 registrierte Gewerkschaften, 757 private und 193 öffentliche. Aktiv von ihnen waren laut MTPS nur 253 (196 private und 57 öffentliche), also gerade einmal gut ein Viertel. Die Zahl der aktiven Gewerkschaftsmitglieder beziffert das MTPS mit 155.843, davon gut drei Viertel Männer. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ist im Verhältnis zur erwerbstätigen Bevölkerung mit 5,7 Prozent gering. Für das Jahr 2018 hatte die ILO den gewerkschaftlichen Organisierungsgrad noch mit 8,7 Prozent angegeben.

Laut Daten der salvadorianischen Frauenrechtsorganisation Observatorio Económico Laboral de Mujeres de ORMUSA ist die Zahl der aktiven Gewerkschaftsmitglieder von 2017 bis April 2021 deutlich zurückgegangen. Waren im Jahr 2017 noch 192.390 Mitglieder registriert, waren es 2021 im April nur noch 108.576. Das bedeutet einen Rückgang von 44 Prozent.