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Karlsbrücke, PragFoto: Cavan images/imago

Jaroslav Rudiš: Weihnachten in Prag

Prag am Heiligen Abend. Die Straßen sind fast leer, es ist kalt, leichter Schnee fällt. Ein Mann, der Ich-Erzähler, schlendert durch die Stadt, in der er als Junge mit seinem Vater war, und in der er damals für ein paar Stunden verloren ging. Jetzt fährt er mit der Trambahnlinie 22 von der Moldau zur Prager Burg, dann wieder zurück, und er kehrt in einer Kneipe ein. Das Bier wärmt ihn, oder er wärmt das Bier, so genau weiß er das nicht, aber sicher ist, dass in seiner Nähe ein Mann sitzt, der leuchtet wie eine helle Lampe. Er heißt Kavka, aber er findet es in Ordnung, dass ihn alle Kafka nennen, wie den berühmten Schriftsteller.

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Zu zweit ziehen die Männer durch das stille Prag, sie lassen sich Zeit und nehmen die besondere Stimmung wahr: „Und dann schweigen wir und schauen auf die Moldau und auf die Stadt, und ein Zug fährt über die ­Brücke, und im Lärm geht alles verloren. Nur die Stadt, die Stadt bleibt. Und der Fluss. Und das Licht.“ Die Moldau glänzt im Licht der Laternen, und als der Erzähler und Kafka weiter spazieren, fällt ihnen auf, dass die Kirchen von innen strahlen, dass überall in der Stadt ein gelbes, warmes, beschützendes Licht zu leuchten scheint. Nachdem sie in einem Wirtshaus weitere Biere zu sich genommen haben, gesellen sich zwei weitere Nachtgestalten zu ihnen: ein warmherziger Gauner und eine wehmütige Italienerin. Gemeinsam schlendern sie weiter, treffen auf Bauarbeiter und ­Straßenmusiker, und diskutieren über den Tod, die Einsamkeit und den Zauber der Stadt. Zudem erzählen sie sich die Legende vom Christkind, das am Heiligen Abend immer in der Kneipe Anker einkehrt, ein kleines Bier bestellt, und sogleich wieder mit der Straßenbahn entschwindet.

Diese einzigartige Geschichte wirkt mit ihrer Melancholie und ihrem leisen Humor unglaublich wohltuend. Es ist nicht nur eine Hommage an die Stadt Prag, sondern auch an all die Gestrandeten, die an Weihnachten ­irgendwo in einer Kneipe sitzen oder Anschluss suchen. Ein kostbares Büchlein, liebevoll gestaltet mit modern-meditativen Illustrationen des Künstlers Jaromir Svejdík, der mit Jaroslav Rudiš privat befreundet ist – ­beide spielen in der Indie-Rockgruppe „Kafka Band“. Ihr kongeniales Weihnachtswerk lebt auch von dem alternativen, klischeefreien Raum, den ihre Protagonist*innen in der ruhigsten Nacht des Jahres durch­wandern. Günter Keil

LUCHTERHAND VERLAG, MIT ILLUSTRATIONEN VON JAROMÍR 99. 96 S., 16 EURO

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Hallgrímur Helgason: 60 Kilo Kinnhaken

Willkommen in einem kleinen isländischen Fjord, Anfang des 20. Jahrhunderts. Hier lebt der 18-jährige Gestur, ein Arbeiter, der seine Familie mit verschiedensten Jobs über Wasser hält. Ständig verliebt er sich neu und macht seine ersten sexuellen Erfahrungen. Der Alltag kommt Gestur wie ein Abenteuer vor, denn dauernd passiert etwas Unvorhersehbares, und tatsächlich löst die Heringsfischerei einen Goldrausch im zuvor armen Island aus. Norweger und Dänen kommen mit ihren Schiffen, um Geschäfte zu machen, sie bauen Häuser und Fabriken, saufen mit den Einheimischen bis zum Umfallen und prügeln sich bis in die Nacht. Mittendrin Gestur, der in der Fischerei schuftet, Tele­gramme überbringt und davon träumt, sich endlich ein Haus aus Holz leisten zu können, statt der Torfhütten, in denen er und die meisten Isländer noch leben. Hallgrímur Helgason begleitet seine Hauptfigur von 1906 bis 1918; er schreibt süffig, ironisch und höchst unterhaltsam vom Übergang Islands in die Moderne, von verschrobenen Gestalten, seltsamen Bräuchen, von „Branntwein, Blut und Beischlaf“, wie es treffend heißt. 672 Seiten isländische Geschichte, erzählt mit einem großen Augenzwinkern und vielen Kinnhaken.

Günter Keil

Tropen Verlag, Ü: Karl-Ludwig Wetzig, 672 S., 26

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Johnny Cash: The Life in Lyrics

20 Jahre nach dem Tod des legendären Countrysängers und -Songschreibers ­haben sein Sohn John Carter und der Familienchronist Mark Stielper einen stattlichen Bild-und Textband herausgebracht, der 125 Liedtexte und deren Geschichte dahinter versammelt. Cashs Sohn ist mittlerweile selbst 53 Jahre alt und ebenfalls Countrysänger. Er kommentiert Stielpers Geschichten und historische Rückblicke, die weniger die Musik Cashs in den Fokus rücken, sondern die Texte in ihrer Beziehung zum bewegten Leben betrachten. Cashs Texte finden sich bereits seit seiner Jugend auf Zetteln, DIN-A4-Seiten, wo immer er Platz zum Schreiben fand. Der frühe Tod seines Bruders Jack etwa ließ ihn nie los; so rührte er noch 1996 in Meet me in Heaven zu Tränen mit seiner Sehnsucht auf ein Wiedersehen im Jenseits. 600 Songs hat Cash insgesamt geschrieben; anhand der 125 hier ausgewählten fächert Familienhistoriker Stiepel das ­Lebenstableau des Sohnes von Baumwollpflanzern und Baptistenpredigern auf, dessen Musik um die Unterdrückten und vom Leben Gebeutelten kreiste, wie er trotz aller Erfolge selbst einer war. Mittels QR-Code im Buch kann man beim Schmökern die als Spotify-Playlist bereitgestellten Songs gleich anhören.

Jenny Mansch

BTB Verlag, Ü: Alexander Wagner, Stefan Rohmig, Philip Bradatsch, Bernd Gockel. 374 S., 48 €