Das wichtigste Parlamentsrecht ist ihnen verwehrt: Weil Bezirksversammlungen keinen eigenen Haushalt haben, können die Abgeordneten auch nicht darüber abstimmen. Dafür haben sie den direktesten Draht zu den Bürger*innen und bewegen in den Bezirken Einiges für sie. Am 9. Juni wählt Hamburg seine sieben Bezirksversammlungen neu.

Das Mikro knarzt, das kommt mal vor, und vielleicht sieht es schon bald nicht mehr ganz so nach abgerocktem 70er Jahre-Bau aus, wenn die Bezirksversammlung Nord tagt. Vielleicht gibt es dann sogar ein richtiges Schild und man muss sich nicht den Weg zum Hinterhaus beim Pförtner erfragen, dann an den Beschäftigten des Standesamtes vorbei den Flur hinunter, durch die Glastür rechts, und wer dann noch mal fragt, findet auch den Weg die Treppe hoch auf die Empore und hat einen guten Blick auf die Bezirksversammlung mit ihren 51 Abgeordneten. Die sehen von oben tatsächlich so unterschiedlich aus wie die Bürger*innen dieser Stadt. Es gibt schicke Anzüge an schlanken und Karohemden über beleibten Körpern, lässiges Freizeitoutfit und Designstrick – Männer und Frauen, Jüngere und Ältere, aus sechs Parteien.

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Nadja GrichischFotos: Jörn Breiholz

Willkommen in der Bezirksversammlung Nord. Hier treffen sich die Bezirksabgeordneten, um monatlich die lokalen Angelegenheiten in Hamburgs Norden mit seinen mehr als 320.000 Anwohner*innen zu besprechen. Dächte man Hamburg Nord als eigene Stadt, läge sie unter den größten deutschen Städten auf Platz 20, größer als Münster, Mannheim oder Karlsruhe. In der Bezirksversammlung spiegelt sich das nicht wieder, auch wenn es bald wohl einen Neubau des Bezirksamtes und damit vielleicht ein optisches Upgrade für die parlamentarische Vertretung geben wird. Genau das ist das erste Thema der Bürgersprechstunde, zu dem eine Bürgerin Fragen stellt, und damit sind wir gleich mittendrin in dem, um was es hier vor allem geht: Die Anliegen der Anwohner*innen parlamentarisch aufzunehmen und zur Entscheidung zu bringen.

Sehr basisnah und hamburgerisch

Die halbstündige Bürgersprechstunde zu Beginn jeder Bezirksversammlung ist eine sehr basisnahe, hamburgische Institution. In allen sieben Bezirksversammlungen können die Bewohner*innen zu Beginn an das Mikrofon treten, um Dinge nachzufragen oder Vorschläge zu machen. Die Parlamentarier*innen antworten in der Regel direkt darauf. So auch hier: Nachdem die Fraktionen ihre Sicht zur Frage nach dem Neubau erläutert haben, hat die Anwohnerin keine weiteren Fragen mehr. Sie ist zufrieden und gibt den Weg für die nächste Frage frei.

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Thomas Iwan und Ingo Freund

Diese Bürgernähe ist es, die Nadja Grichisch an der Bezirkspolitik so schätzt. „Wir können hier Machtstrukturen aufbrechen und genau das ist es, was mich an Politik generell interessiert“, sagt die grüne Bezirksabgeordnete, die sich zusätzlich zur Bezirksversammlung im Regionalausschuss Fuhlsbüttel Ohlsdorf Langenhorn, im Jugendhilfeausschuss und als grüne Sprecherin fürs Ehrenamt engagiert. Etwa 15 Stunden ­wöchentlich steckt die 49-Jährige in die Bezirkspolitik. Sie bekommt dafür rund 700 Euro Aufwandsentschädigung pro Monat und damit einen Stundenlohn deutlich unter dem Mindestlohn. 150 Euro gehen davon dann noch als Spende an die Partei ab. Dafür kann Nadja ­Grichisch gestalten und ihren Einfluss geltend machen. Zum Beispiel zur Frage, was man macht, wenn Bäume gefällt werden sollen, weil sie krank oder im Weg sind.

Oder – das ist ihr ein besonderes Anliegen – neue Namensvorschläge für von den Nazis im vergangenen Jahrhundert umbenannte Straßen überlegen: Statt Woermannsweg, Woermannstieg und Justus-Strandes-Weg sollen die Straßen bald nach Luisa Kamana, Cornelius Fredericks oder Jagotja, der Sklavin eines deutschen Sklavenhalters, benannt werden. Es ist eine fraktionsübergreifende Initiative, die viele im Stadtteil unterstützen, aber eben nicht alle. „Einige Anwohner*innen der betroffenen Straßen finden das nicht gut“, sagt die dreifache Mutter und Sozialarbeiterin. „Das muss man dann auch aushalten können.“

Demokratie ist Kompromiss und heißt, sich einigen zu können. Viel häufiger als etwa in der Bürgerschaft suchen die ­demokratischen Parteien in den Bezirksversammlungen nach gemeinsamen ­Lösungen und finden sie auch. „Man braucht immer einen Rauskommer, denn man muss immer einen Kompromiss schließen“, weiß Sozialdemokrat Ingo Freund, dessen Engagement in der Bezirkspolitik in Wandsbek bereits zu Zeiten des Mauerfalls im letzten Jahrhundert begann – als sogenannter zugewählter Bürger. Es ist ein Weg in die Politik, den viele wählen. Statt gleich direkt für die Partei zu kandidieren, können die Fraktionen nach der Wahl Bürger*innen benennen, die für sie in die Fachausschüsse gehen. Das hilft den Parteien, alle Ausschüsse zu besetzen, und senkt die Hürde für die Anwohner*innen, sich politisch zu engagieren. Dieses Amt – das ist einzigartig – können auch Bürger*innen aus einem Nicht-EU-Land ausüben.

Alles zukunftsfähiger machen

Der 56-jährige Ingo Freund ist Regionalsprecher für das Kerngebiet Wandsbek, Eilbek, Tonndorf, Marienfeld und Jenfeld und den Bauprüfausschuss, außerdem Mitglied im Planungsausschuss. Ihm liegt vor allem der soziale Wohnungsbau am Herzen. „Im Planungsausschuss machen wir vor Ort die Bebauungspläne, die die Bürgerschaft dann als Gesetz beschließt“, sagt der freigestellte Betriebsrat der Postniederlassung Hamburg. „Wir versuchen hier vor allem, möglichst viel bezahlbaren Wohnraum zu bauen.“ Da geht es auch darum, die Wochenmärkte attraktiver zu gestalten. „Wir wollen sie zukunftsfähiger machen, mit mehr Nutzung, einem gastronomischem Angebot, begrünen und auch was für Kinder machen. Dafür gucken wir uns auch mal in anderen Bezirken oder Städten um.“

Thomas Iwan ist Bauingenieur und ver.di-Vertrauensmann beim Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer. Der Fraktionsvorsitzende der Linken in Wandsbek ist außerdem Fachsprecher für den Regionalausschuss im Kerngebiet, für Haushalt sowie für Jugendhilfe, das alles seit 2019. Aufgrund von Bundesgesetzgebung ist der Jugendhilfe-Ausschuss etwas Besonderes. An ihm nehmen neben den neun Bezirksabgeordneten auch sechs Expert*innen freier Träger teil. Dadurch ist der Kooperationswille hier höher als in der Bezirksversammlung, auch weil andere Mehrheiten möglich sind. „Mit den Argumenten der freien Träger im Rücken ist es uns auch schon gelungen, 50.000 Euro Sondermittel für Angebote für die Kinder zu organisieren, die in den Ferien zuhause bleiben müssen“, sagt der 38-Jährige.

Thomas Iwan versucht, „innerhalb des knappen Korsetts Handlungsspielräume für die Bezirksangelegenheiten“ zu öffnen. Als Angestellter der Stadt kennt er die zwei Sprachwelten – im Amtsdeutsch ist die Verwaltung uneingeschränkter Herrscher, bloß: „Dadurch tut sich ein Hierarchiegefälle zu den Bürger*innen auf. Das ist ein Problem“, sagt der 38-Jährige. Er sieht sich daher vor allem als Mittler zwischen Verwaltung, Politik und Bürger*innen, als Dolmetscher sozu­sagen. „Wir Bezirksabgeordneten haben das Ohr an der Straße“, sagt er. „Aber leider haben wir in der Einheitsgemeinde Hamburg weniger Gestaltungsspielraum als der Gemeinderat im Dorf meiner ­Eltern in Schleswig-Holstein.“

Das ließe sich ändern. Wie die Bezirksversammlungen in den kommenden fünf Jahren nach der parallel zur Europawahl stattfindenden Kommunalwahl parteipolitisch zusammengesetzt sind und was sie durchsetzen könenn, entscheiden die Hamburger*innen am 9. Juni mit ihrer Stimme.

Die Bezirksversamm­lungswahlen 2024

Insgesamt 357 Bezirksabgeordnete wählen die Hamburger*innen zeitgleich zur Europawahl am 9. Juni in allen sieben Hamburger Bezirken: 47 Abgeordnete im kleinsten Hamburger Bezirk Bergedorf, 57 im größten Bezirk Wandsbek und jeweils 51 in den anderen fünf. Jede und jeder Wahlberechtigte hat zehn Stimmen – fünf, die er auf die Parteien verteilen kann, sowie weitere fünf Stimmen für die Direktkandidat*innen. Wie auch bei der Bürgerschaftswahl wählen in Hamburg auch schon 16- und 17-Jährige die Bezirksversammlungen.

Alle Informationen und Veranstaltungen von ver.di Hamburg rund um die Wahlen am 9. Juni gibt es hier: hamburg.verdi.de/hamburg-waehlt-demokratisch