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Demo gegen Rechts am 2. Februar in BerlinFoto: Christian Jungeblodt

Pro:

Viele Menschen mit Migrationsgeschichte fürchten, was da kommen wird, sollte die AfD regieren. Das Urteil der Geschichte wird ein Ungnädiges sein, wenn wir uns jetzt nicht schützend vor diese Minderheiten stellen

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Ronen Steinke ist Autor und Redakteur der Süddeutschen Zeitung, zuletzt erschienen ist von ihm zusammen mit Nora Markard das Buch: Jura not alone. 12 Ermutigungen, die Welt mit den Mitteln des Rechts zu verändern. Campus Verlag, Frankfurt a.M. 2024Foto: Amin Akhtar

Wie schön wäre es, in dieser Situation ruhig bleiben zu können. Wie gern hätte ich die Gelassenheit zu sagen: Überlassen wir es doch dem demokratischen Diskurs. Das stärkere Argument wird siegen. Wir brauchen kein AfD-Verbot. Die AfD wird sich schon wieder erledigen. Oder: Wir werden sie am Wahltag kleinkriegen, auch wenn es einige Jahre dauert, ich vertraue ganz fest darauf. Wir werden keine Abkürzungen wählen, denn das ist der ehrenvollste, der beste Weg – ohne Tricks, ohne Eingriffe von oben. Aber ich glaube, diese Gelassenheit zu haben, ist ein ziemliches Privileg.

Viele Menschen, die in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder auch in anderen Regionen Deutschlands leben und eine Migrationsgeschichte haben, fürchten in diesen Wochen und Monaten, was da kommen wird. Und wir sollten sie nicht allein lassen. Wir sollten, denke ich, auch aufpassen, dass der Diskurs um die Möglichkeit eines Parteiverbotsverfahrens gegen die AfD jetzt nicht von denjenigen bestimmt wird, die im Trockenen sitzen und glauben, dass sie es sich leisten können, gelassener auf das Thema zu blicken, liberal bis zuletzt.

Die Demokratie muss gerade diejenigen beschützen, die vulnerabel sind. Genau diesen Menschen will die AfD, so wird es zunehmend deutlich, an die Existenz. Wenn man hört, was für Töne zuletzt aus der AfD kommen, dann kann man je nach persönlicher Betroffenheit entweder bloß sorgenvoll die Stirn in Falten legen – oder man kann es wirklich mit der Angst zu tun bekommen.

Wenn dort, zum Beispiel, von "Remigration" schwadroniert wird, also von einer Abschiebung auch von "nicht assimilierten" Menschen mit deutschem Pass – dann sollte sich niemand Illusionen darüber hingeben, dass es dabei natürlich um handfeste Gewalt geht. Leute werden abgeholt, in ein Flugzeug gezerrt, notfalls gefesselt, und irgendwo in einem anderen Land wieder ausgespuckt, das ihnen fremd ist. Womöglich in einer Diktatur.

Wenn die AfD, ein weiteres Beispiel, sich mit Überlegungen beschäftigt, die Bürgerrechte von Menschen in Deutschland nicht mehr automatisch an die simple Tatsache ihrer Staatsbürgerschaft zu knüpfen, sondern darüber hinaus auch einen missmutigen Blick in den Stammbaum der Menschen zu werfen, ob dieser denn nach AfD-Kriterien wirklich gut genug ist – dann ist das ein Szenario, das wir nicht einfach auf uns zukommen lassen dürfen. Egal, wie unser eigener Stammbaum aussieht.

"Die Demokratie muss gerade diejenigen beschützen, die vulnerabel sind. Genau diesen Menschen will die AfD, so wird es zunehmend deutlich, an die Existenz."

Wenn wir jetzt nicht sagen: Wir stellen uns schützend vor die Minderheiten, wir halten zusammen und lassen nicht zu, dass jemand uns spaltet – dann wird das Urteil der Geschichte kein gnädiges sein. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das für die Frage von Parteiverboten zuständig ist, könnte hier helfen. Die Richterinnen und Richter in Karlsruhe sind nüchterne Menschen, sachlich und faktenorientiert. Wenn sie einen Verbotsantrag prüfen, dann geht es ihnen dabei nicht um persönliche Präferenzen, sondern um die Prüfung einer Beweislage.

Das Gericht in Karlsruhe muss zwei Fragen in den Blick nehmen. Erstens: Zielt die AfD darauf ab, die Demokratie auszuhebeln? Angesichts der jüngsten Nachrichten wird man kaum darüber hinwegsehen können, dass es dafür Anhaltspunkte gibt, dass also die Antwort Ja lauten könnte. Zweite Frage: Hat die AfD auch eine realistische Chance, diesem Ziel nahezukommen? Die Antwort auf diese Frage fällt dann sogar recht einfach aus, denn natürlich hat eine Partei, die in mehreren Bundesländern derzeit sogar die Wahlumfragen anführt, eine Machtperspektive.

Das summiert sich zu einem Anfangsverdacht, den man als Demokratin, als Demokrat nicht ignorieren darf, sondern den man jetzt den zuständigen Fachleuten in Karlsruhe zur Prüfung vorlegen sollte. Diese Prüfung weiter zu verhindern, wäre fahrlässig.

Contra:

Es gibt andere Möglichkeiten als juristische, gegen die AfD vorzugehen. Es gibt Orte, an denen Kandidaten von SPD und CDU AfD-Kandidaten besiegt haben, auf sie sollte man schauen

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Sabine Rennefanz ist freie Autorin und Kolumnistin beim Spiegel, gerade erschienen ist ihr neuer Roman Kosakenberg. Aufbau Verlag, Berlin 2024Foto: Sven Gatter

Die AfD mag eine in Teilen rechtsextremistische Partei sein, etliche ihrer Vertreter provozieren mit rassistischen, frauenfeindlichen und demokratiefeindlichen Äußerungen. Doch man muss die AfD im Jahr 2024 politisch bekämpfen – nicht juristisch. Im Juni finden Europa- und Kommunalwahlen statt, im September wählen Brandenburg, Sachsen und Thüringen: Wenn man ausgerechnet in diesem Jahr ein Verbotsverfahren beginnen würde, sähe das wie ein Wahlkampfmanöver der Regierungsparteien aus, die versuchten, mit Hilfe des dem Innenministerium untergeordneten Verfassungsschutzes, einen missliebigen Konkurrenten auszuschalten. Es wäre ein Zeichen von Schwäche, nach dem Motto: Etwas anderes haben wir nicht mehr im Arsenal.

Die AfD würde die Situation ausschlachten und sich als "Opfer" der sogenannten "Altparteien" inszenieren – so ähnlich wie sie das bereits in dem Gerichtsverfahren vor dem Oberlandesgericht Münster vorführt. Dort wird seit Mitte März verhandelt, ob der Verfassungsschutz die Partei mit geheimdienstlichen Mitteln beobachten darf. Im Kern geht es dabei um die Frage, welche konkreten Anhaltspunkte der Verfassungsschutz vorzulegen hat, die belegen, dass die AfD die Demokratie abschaffen will. Das, was bisher in der Öffentlichkeit bekannt ist, liest sich eher dünn.

Haben nicht die vergangenen zehn Jahre gezeigt, dass die Strategie, die AfD mit Abscheu, Empörung und verqueren historischen Vergleichen kleinzuhalten, nicht funktioniert? Die moralische Verurteilung der in Teilen rechtsextremen Partei hat nichts gebracht. Im Gegenteil, es hat zu einem Trotz-Verhalten geführt, nach dem Motto: Jetzt erst recht.

Noch schwerer wiegt das Argument, dass ein Verbot der AfD die Meinungen eines Großteils der Bürger kriminalisieren würde. Anders als einst die NPD kratzt die AfD nicht an der Fünf-Prozent-Hürde, etwa jeder Fünfte und in Ostdeutschland sogar jeder Dritte sympathisiert mit der Partei. Vor allem für die Landtagswahlen wäre es ein fatales Signal: Ein Verbot würde bedeuten, dass man im Osten jeden dritten Wähler von der politischen Willensbildung ausschließt. Ihre Stimmen würden für unerwünscht erklärt. Es würde die vorhandene Meinung vieler Menschen stärken, dass ihre Perspektive nicht zählt, dass sie "von oben" entmündigt werden sollen. Anders als vom Westen verbreitet, haben die Ostdeutschen ein ausgeprägtes demokratisches Bewusstsein. Die SED ist daran gescheitert, dass sie es nicht schaffte, mehr Mitbestimmung und Teilhabe zu organisieren.

Und heute? Die Abgeordneten vertreten längst nicht mehr die Breite der Bevölkerung, Nicht-Akademiker sitzen kaum im Bundestag, ihre Interessen und ihre Perspektiven fehlen oft. Gleichzeitig nimmt der Einfluss von außer-parlamentarischen Institutionen wie dem Verfassungsgericht oder Lobbygruppen ständig zu. Die Menschen – besonders im Osten – haben sich ein bisschen Wohlstand erarbeitet, jetzt fürchten sie, dass die Regierung ihnen eine teure neue Heizung aufbrummen will, die sie nicht bezahlen können, oder dass ihnen vorgeschrieben wird, nicht mehr mit dem Auto in den Urlaub zu fahren. Gleichzeitig sehen sie, was alles nicht funktioniert, marode Straßen, fehlende Digitalisierung, leere Landeskassen. Die AfD nutzt diese Lücken geschickt aus, und sie ist politisch als Opposition durchaus effektiver, als ihre Gegner ihr das zugestehen. So traurig es sein mag: Erst durch die AfD ist das Interesse an Ostdeutschland in den großen Parteien und in den Medien gestiegen. Die AfD ist nicht die Ursache für die veränderte politische Stimmung, sondern ihr Symptom, sie ist auch eine Trotzreaktion: Die Leute wählen die AfD nicht vorrangig wegen ihres politischen Programms, sondern vor allem als Signal an die anderen Parteien: Ihr habt uns in den vergangenen 30 Jahren verkauft, verschaukelt und jetzt wählen wir eben diejenigen, die euch richtig ärgern. Dass diese Partei auch ein West-Import ist, widerspricht nur scheinbar.

"Die Demokratie muss gerade diejenigen beschützen, die vulnerabel sind. Genau diesen Menschen will die AfD, so wird es zunehmend deutlich, an die Existenz."

Alle Parteien in Ostdeutschland sind Ableger westdeutscher Organisationen, Ausnahme ist die Linke, deren einziger Ministerpräsident, Bodo Ramelow, aber auch westdeutsch sozialisiert ist. Die Parteien haben in der Breite nie Fuß fassen können, ihnen fehlen die Mitglieder, die Verankerung in den Kommunen. In Thüringen bei der Landtagswahl sind alle Spitzenkandidaten bis auf einen Teil des Grünen-Duos zugezogene Westdeutsche.

Interessanterweise gibt es fast überall in der westlichen Welt einen Rechtsruck, Marine le Pen in Frankreich steht in den Umfragen bei rund 30 Prozent, in den USA könnte Donald Trump der alte, neue Präsident werden – trotzdem gibt es nur in Deutschland eine Verbotsdebatte. Ist das ein Zeichen für eine autoritäre Prägung?

Es gibt andere Möglichkeiten, gegen die AfD vorzugehen, als juristische. Es gibt Orte, an denen Kandidaten von SPD und CDU AfD-Kandidaten besiegt haben, auf sie sollte man schauen. In den vergangenen Wochen sind Hunderttausende Menschen gegen rechts auf die Straße gegangen, seitdem sinkt auch die Zustimmung zur AfD in den Umfragen. Das geht in die richtige Richtung.