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Foto: Florian Boillot

Mareike Fallwickl: Und alle so still

Schluss, aus, Ende. Die Frauen in diesem wuchtigen feministischen Roman haben keine Lust mehr, ständig für alles zuständig zu sein und immer jeden Pflege-Notstand auffangen zu müssen, in Familie und Gesellschaft. Sie sind es leid, seit Jahrzehnten nicht gehört, gesehen und geachtet zu werden. Folglich beschließen sie, einfach damit aufzuhören, sich zu verausgaben und sich ausbeuten zu lassen. Sie legen ihre Arbeit nieder und sich selbst hin. Auf Straßen, Teppiche, Wiesen, überall dort, wo es ihnen gerade passt. Erst sind es nur einige Dutzend Frauen, doch mit jedem Tag werden es mehr – schließlich protestieren Zigtausende auf diese unheimliche Weise; sie heben keine Plakate hoch und sagen nichts, und dennoch schlagen ihre Demonstrationen ein wie Bomben.

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„So sieht es aus, wenn das System zusammenbricht“, kommentiert eine Figur im Buch die Protestaktion, und tatsächlich: Ohne die Frauen geht gar nichts mehr. Die Welt gerät aus den Fugen, und die Frauen sagen weiterhin nichts dazu. Sie legen sich einfach nur hin. Mit diesem grandiosen Setting hat Mareike Fallwickl einen großen Gesellschaftsroman komponiert. In schnellem Rhythmus sowie mit scharfen Sätzen und viel Energie erzählt sie davon, wie aus Erschöpfung Entschlossenheit entsteht, wie die Kaputtgeschufteten im Kollektiv für ihre Interessen kämpfen. „Fuck it, I´m leaving“, „scheiß drauf, ich gehe“, sagen die Frauen, und den Männern wird klar, dass sie endlich mit anpacken müssen.

Mareike Fallwickl erzählt ihre Geschichte aus drei Perspektiven: Die junge, selbstbewusste Elin arbeitet als Influencerin und sieht sich mit misogynem Hass im Netz konfrontiert. Ruth ist Ende Fünfzig. Nach dem Tod ihres behinderten Sohnes hat sie wieder angefangen, als Pflegekraft im Krankenhaus zu arbeiten. Nuri stammt aus prekären Verhältnissen, einen Schulabschluss hat er nicht. Nun versucht er, sich als Fahrradkurier, „Bettenschubser“ und Essenslieferant über Wasser zu halten. Diese drei Figuren geraten in die erste Protestaktion der sich hinlegenden Frauen, und fortan geben sie ihren Lebenswegen eine neue Richtung: Sie schließen sich der Bewegung an, um gemeinsam für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen. Genau dies ist auch die Botschaft des Romans: Nur mit Solidarität und gegenseitigem Verständnis entsteht ein besseres Leben. Doch zuvor müssen sich wohl erst wirklich die Frauen auf die Straße legen, um das Bewusstsein für einen Wandel zu schärfen. Günter Keil

Rowohlt Buchverlag, 368 Seiten, 23 Euro

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Nana Kwame Adjei-Brenyah: Chain Gang All-Stars

Von der ersten Zeile an spürt man die explosive Energie und den schnellen Rhythmus dieser Dystopie. Was perfekt zum Inhalt passt, denn die Geschichte ist apokalyptisch und dennoch denkbar. Sie spielt im Amerika in naher Zukunft, in einer aus den Fugen geratenen gewalttätigen Gesellschaft. Die US-Regierung bietet Straftätern, die zu lebens­langer Haft verurteilt wurden, einen Deal an, eine makabre Chance: In riesigen Stadien kämpfen sie als moderne Gladiator*innen gegen andere Straftäter – um Leben und Tod. Bewaffnet mit einer Sense und einem Hammer müssen sie töten, um in der Rangordnung aufzusteigen und vielleicht irgendwann freigelassen zu werden. Das brutale Spektakel wird live übertragen, und das ganze Land fiebert am Bildschirm mit. Zwei Frauen sind die gefeierten Idole dieser Truppe von Gefangenen, der sogenannten Chain-Gang All-Stars: Loretta Thurwar und Hurricane Staxxx stehen im Fokus des radikalen Romans, mit dem der Autor seiner Heimat USA gekonnt den Spiegel vorhält. Denn Gewalt, Rassismus, Voyeurismus und schockierende Zustände in den Gefängnissen existieren schließlich schon heute. Günter Keil

Hoffmann & Campe, Ü: Rainer Schmidt 480 S., 25 €

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Michael Petzel: Filmstadt Göttingen

Hätten Sie’s gewusst? In der niedersächsischen Stadt Göttingen gaben sich in den Jahren 1948–1961 die berühmtesten Schauspieler der jungen Bundes­republik die Klinke in die Hand, 120 Filme wurden hier gedreht. Berlin und München waren zerstört, die UFA-Studios in Babelsberg gehörten jetzt den Russen. Göttingen aber war fast unversehrt. Hier landeten die Filmenthusiasten Rolf Thiele und Hans Abich; sie richteten in ­einer alten Flugzeughalle der Wehrmacht ein Filmstudio ein. 1949 fiel mit dem Lustspiel Hallo – Sie haben Ihre Frau ver­gessen der Startschuss. Nach einem Flop (Liebe 47) schwenkte die Produktion um auf Komödien, mit denen sich vergessen ließ, was man die Jahre zuvor angerichtet hatte. So trafen die Göttinger in ihren Straßen unversehens auf Schauspieler wie Hilde Krahl, Claus Biederstaedt, Hildegard Knef und vor allem Heinz Ehrhard. Filmexperte Michael Petzel erzählt dieses erstaunliche Kapitel deutscher Filmgeschichte kundig und amüsant mit einer Fülle von Fotos, Filmplakaten, Rezensionen und Hintergrundwissen. Auch zeichnet er den Weg vom Schwarz-Weiß-Bild ins Zeitalter des Farbfilms nach. Ein toller Bildband, der viel auch über die Verfasstheit der Westdeutschen in der Nachkriegszeit erzählt. Jenny Mansch

VANDENHOECK & RUPRECHT, 288 S., 39 €