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Aktion vor dem Bundestag in Berlin – 75 Jahre Grundgesetz sind ein Grund zum Feiern, aber nicht zum AusruhenFoto: Britta Pedersen/dpa

75 Jahre lang ist ja alles gutgegangen. Das deutsche Grundgesetz galt weltweit als Vorbild für eine gelungene Verfassung. Ein Glücksfall der Geschichte, eine sichere Festung für Frieden und Freiheit. Doch nun scheint plötzlich alles anders.

Autoritär-populistische Parteien wie die AfD lassen keinen Zweifel daran, dass sie das Grundgesetz demontieren wollen – und dass sie es können. Die Abschaffung der Demokratie beginnt ganz leise, ganz unten, durch Änderungen an Gesetzen, die notwendige Voraussetzungen für das Funktionieren des Ganzen sind. Eine Regierungskoalition – nur als Beispiel: ein Bündnis von AfD und BSW – bräuchte nur eine Stimme Mehrheit im Parlament, um tragende Teile dieses ehrwürdigen Systems aus Freiheitsgarantien und demokratischen Sicherungen zum Zusammensturz zu bringen.

Was uns, schon nach den nächsten Bundestagswahlen, passieren kann, lässt sich hautnah am Beispiel eines Gesetzes zeigen, dessen 75. Geburtstag Gewerkschafter erst vor wenigen Wochen, am 4. April gefeiert haben, des Tarifvertragsgesetzes (TVG). Jawohl, das TVG ist älter als das Grundgesetz, es wurde nicht von einem parlamentarischen Rat beschlossen, sondern im harten Arbeitskampf durchgesetzt – sogar die Drohung eines Generalstreiks stand damals im Raum.

Kaum ist die Geburtstagsfeier vorbei, könnte eine autoritär-populistische Partei damit Wahlkampf für die kommende Bundestagswahl machen, dass sie verspricht, endlich die Arbeitsbedingungen der lahmenden deutschen Wirtschaft in Ordnung zu bringen und sie unter staatliche Kontrolle zu stellen. Erster Schritt, schnell gemacht, ersatzlose Streichung des Tarifvertragsgesetzes. Eine Stimme Mehrheit genügt.

Schutzschirm Verfassungsgericht

Ein solches Vorgehen wäre wohl verfassungswidrig. Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes – das Grundrecht der Gewerkschaften – garantiert die Tarifautonomie, also muss es auch ein Tarifvertragsgesetz geben. Es wäre, ganz klar, ein Fall für Karlsruhe.

Das Verfassungsgericht ist sozusagen der Schutzschirm, der sich blitzschnell entfalten kann, wenn Garantien des Grundgesetzes attackiert werden. So ist das jedenfalls gedacht.

Aber was, wenn er klemmt? Etwa, weil jemand Sand in den Mechanismus geworfen hat?

Mit kleinsten Änderungen im Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist es möglich, die Arbeitsfähigkeit des Gerichts auf Jahre zu blockieren – etwa durch neue Begründungspflichten für die Nichtannahme der rund 5.000 aussichtslosen Verfassungsbeschwerden pro Jahr. Oder durch die Vorgabe, alle Sachen unabhängig von ihrer Dringlichkeit in der Reihenfolge des Eingangs zu bearbeiten. Unsere Sache mit dem TVG wäre dann vielleicht zum 80. Geburtstag des Grundgesetzes dran.

Der Angriff von innen ist natürlich weit wirkungsvoller: Als nächstes könnte man vorschlagen, das Gericht zu "stärken", indem man die Zahl der Richter, sagen wir, verdoppelt. Nicht mehr zwei Senate mit je acht Richtern, sondern vier Senate sollten in Karlsruhe entscheiden. "Court Packing" heißt der Trick beim Supreme Court in den USA. Dort ist es besonders einfach, regierungstreue Richter draufzupacken und so die Mehrheiten im Gericht nach Wunsch zu ändern.

In Deutschland ist das etwas schwieriger, weil die Richter – vom Bundestag und Bundesrat je zur Hälfte – mit zwei Drittel-Mehrheiten gewählt werden müssen. Aber es gibt da das beliebte Mittel der Erpressung: Wenn Ihr unsere Richter nicht wählt, dann blockieren wir die Wahl eurer Richter. Da reicht schon eine Knapp-über-einem-Drittel-Minderheit. Und dann gibt es bald überhaupt keine Richter mehr ins Karlsruhe. Uns ist das nur recht.

Was hier beispielhaft am Artikel 9 des Grundgesetzes vorgeführt wurde, lässt sich auf nahezu jede Garantie der deutschen Verfassung ausweiten. Wer könnte einer Einstimmen-Mehrheit in den Arm fallen, die erklärt, die Menschenwürdegarantie in Artikel 1 gelte "natürlich" nur für Biodeutsche? Ist das Bundesverfassungsgericht einmal lahmgelegt, ist unser aller Freiheit, die Demokratie insgesamt, schutzlos einem skrupellosen autoritären Regime ausgeliefert. Wer könnte es daran hindern, das Wahlrecht so zu ändern, dass seine Macht auf ewig gesichert ist?

Die offene Flanke

Nun versucht die Berliner Ampelkoalition – endlich auch mit Unterstützung der CDU – die offene Flanke des Grundgesetzes zu sichern, indem sie plant, zentrale einfachrechtliche Bestimmungen, die die Arbeitsfähigkeit und Unabhängigkeit des Karlsruher Gerichtes betreffen, in die Verfassung zu übernehmen. Das Grundgesetz kann man nur mit einer Zweidrittelmehrheit ändern, jedenfalls die Einstimmenmehrheitsmasche wäre also nicht mehr möglich.

Das wird jedoch nicht funktionieren. Die Möglichkeiten der Sabotage einer so sensiblen, weltweit einmaligen Institution sind schier unbegrenzt. Und was würden wir machen, wenn eine Regierung eines Tages beschließt: Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden uns nicht? Wer hier auf schnelles Flicken setzt, wird schon deshalb scheitern, weil er das eigentliche Problem übersieht. Das Problem ist nicht das Grundgesetz, das Problem ist das Volk.

Da kommt jemand und sagt: Es "wird ein großangelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein, und bei dem wird man, so fürchte ich, nicht ... um eine Politik der wohltemperierten Grausamkeit herumkommen. Das heißt, dass sich menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden". Den Großvätern des Grundgesetzes läuft es eiskalt den Rücken runter. Sie kennen solche Töne noch von früher. So reden Völkermörder. Doch was machen die Enkel? Sie wählen den, der sowas verspricht, Sie ahnen, es geht um Björn Höcke, aller Voraussicht nach zum Ministerpräsidenten von Thüringen.

Das freie Spiel der Meinungen

Warum wählen gerade junge Leute, die unter Dreißigjährigen, mittlerweile häufiger AfD als Grüne, als SPD oder Unionsparteien? Eine größer werdende Zahl von Bürgern fühlt sich, so zeigen Untersuchungen, von der Regierung und den sie tragenden Parteien allein gelassen, nicht mehr gesehen, oder wie Verfassungsrechtler sagen: nicht mehr repräsentiert.

Und das zurecht. Repräsentation ist in der repräsentativen Demokratie ein Vorgang, der in der Öffentlichkeit stattfindet, dieser räsonierenden und diskutierenden und streitenden Öffentlichkeit, in der das freie Spiel der Meinungen schließlich zu einem politischen Willen gerinnt. So steht das im Grundgesetz. Damit das funktioniert, ist eine vollständige Öffentlichkeit erforderlich, eine, die jeden Bürger in der Weise einbezieht, dass er sich am Meinungs- und Willensbildungsprozess beteiligt.

Weite Teile des Volkes, gerade die Jungen, haben sich aber immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, sie sind ins Metaversum abgetaucht. Auf X, Instagram, TikTok oder bei Facebook funktioniert Meinungsbildung nicht mehr wie in der alten, bürgerlichen Öffentlichkeit, die von den klassischen Medien geprägt war, in der Orientierung möglich war zwischen wahr und unwahr, in der ein Argument stets Aug in Aug mit einem Gegenargument stand.

Im Netz will kaum einer diskutieren. Es fehlt ja auch das Gegenüber. Hier geht es um die militante Verteidigung des eigenen Standpunktes. Da interessiert die Wahrheit von Behauptungen nicht mehr, weil es nur noch darauf ankommt, seine eigene Meinungs-Identität zu verteidigen.

Die Gleichung: Wer seine Meinung im Netz bildet, wählt auch AfD, ist sicher zu simpel. Aber es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Social-Media-Nutzer und -Nutzerinnen ihre Weltsicht so gar nicht in den Erklärungen und Zielen der demokratischen Parteien wiederfinden. Und ebenso wahrscheinlich ist es, dass derart von der Demokratie Irritierte dankbar die Erklärungen der AfD annehmen, wonach die Regierung von einer korrupten weltweit agierenden Elite gesteuert wird, die das deutsche Volk vernichten will.

Wer hier etwas wenden will, kann sich nicht mit Schönheitskorrekturen am Grundgesetz aufhalten. Wichtige Teile des Volkes müssen in die demokratische Öffentlichkeit zurückgeholt werden. Für den Philosophen Jürgen Habermas, den Vordenker des demokratischen Prozesses der Öffentlichen Meinungsbildung, geht es hier schlicht um Alles: "Der Fortbestand der Demokratie, ja eigentlich der Zivilisation, hängt von funktionierender politischer Öffentlichkeit ab."

Das Recht zur Koalition

Heute hat jedermann in Deutschland das grundgesetzlich verbriefte Recht, "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden" (Art. 9 Abs. 3 GG). Einher geht mit diesem Recht das Recht auf Streik zur Durchsetzung von Forderungen, sonst wären Kollektivverhandlungen nur "kollektives Betteln" (BAG 10.6.80). Erstmals gab es im Revolutionsjahr 1848 für kurze Zeit eine Koalitions- und Versammlungsfreiheit: Nationale Gewerkschaften gründeten sich, versuchten Arbeits- und Lebensbedingungen ihrer Mitglieder über Tarifverträge und Streiks zu verbessern. Dieses Recht sollte in der Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1848 festgeschrieben werden. Doch die Revolution scheiterte, die Verfassung trat nie in Kraft.

Erst mit der Weimarer Reichsverfassung 1919 fand sich das Koalitionsrecht erstmals als Grundrecht verankert (Art. 159 WRV), doch nicht lange. Unter Hitler wurden mit der sogenannten "Reichstagsbrandverordnung" (Februar 1933) die Grundrechte der Bürger und damit auch das Koalitionsrecht weitestgehend aufgehoben, bevor knapp einen Monat später der Demokratie durch das "Ermächtigungsgesetz" der Boden entzogen wurde. Nach der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten entstanden 1949 zwei deutsche Staaten: die BRD ausgestattet mit einem Grundgesetz, die DDR mit einer Verfassung. Während in der DDR die ursprünglich gewährte Koalitionsfreiheit (Art. 14 DDRV) 1968 aufgehoben wurde, gilt Art. 9 Abs 3 GG in der Bundesrepublik bis heute. Zusammen mit dem Tarifvertragsgesetz von 1949 bildet es seither den gesetzlichen Rahmen für gewerkschaftliches Handeln. Hartmut Simon