11_HR_414697258.jpg
Erntehelfer*innen werden billig abgespeist, für Wohlhabende haben CDU und FDP MilliardengeschenkeMurat/dpa/picture alliance

Die CDU will das Bürgergeld kippen, wenn sie an die Regierung kommt – und auch die FDP fährt schwere Geschütze auf gegen Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst decken können. Nach Vorstellung von FDP-Chef Christian Lindner sollen Arbeitslose wieder jede Stelle annehmen müssen, auch sogenannte Ein-Euro-Jobs. Wer sich weigert, wird sofort mit drastischem Geldentzug bestraft. Auch die Rente mit 63 für ­Menschen, die 45 Jahre lang gearbeitet haben, will der Bundesfinanzminister schleifen. Auf diese Weise möchte er ­Löcher im Bundeshaushalt stopfen, die seine anderen Vorschläge reißen würden. Eine Senkung der Körperschaftssteuer für Aktiengesellschaften und die Abschaffung des Solidaritätszuschlags kämen vor allem Wohlhabenden zugute. Kostenpunkt: 27 Milliarden Euro.

Zwar zielten Lindners Pläne erst einmal darauf ab, die eigenen Leute beim FDP-Parteitag zu begeistern – und tatsächlich kassierte er prompt eine Abfuhr von seinen Koalitionspartnern SPD und Grüne. Doch Oppositionsführer Friedrich Merz von der CDU lobte die Position und ­plädierte mal wieder für baldige Neu­wahlen.

Schon bei der Einführung war das Bürger­geld heiß umkämpft. Die Ampel-Regierung wollte damit die Hartz-IV-­Regelungen grundlegend reformieren. Nicht die schnelle, sondern die langfristige Integration von Arbeitslosen war das erklärte Ziel. Der Umgang der Arbeitsagenturen mit den „Kund*innen“ sollte kooperativer werden, Qualifizierung im Zentrum stehen. Bis dahin galt, dass Vermittlung in einen Job – egal wie kurz, unqualifiziert und schlecht bezahlt – Vorrang hatte vor einer Aus- oder Weiter­bildung. Bereits ein einziges Melde­versäumnis konnte zu einer 30-prozentigen Kürzung der Bezüge führen. Bei den Verhandlungen mit dem Bundes­rat wurde das neue Konzept dann allerdings schon deutlich gerupft, weil die CDU der Meinung ist, viele Arbeitslose lägen faul in der Hängematte.

Druck führt zu Dequalifizierung

Sinnvoll ist es, erst einmal die Fakten wahrzunehmen. Unter den 5,5 Millionen Menschen im Bürgergeldbezug sind 1,5 Millionen Kinder. Hinzu kommen 800.000 sogenannte Aufstocker, deren Lohn nicht reicht, um das Nötigste zu bezahlen. Die Hälfte der übrigen kann keine Stelle annehmen, weil sie sich zum Beispiel in Ausbildung oder Studium befinden, Kinder erziehen, Angehörige pflegen oder eine Verletzung auskurieren. Lediglich 1,6 Millionen Bürgergeldbeziehende stehen dem Arbeitsmarkt potenziell zur Verfügung.

Eine kürzlich erschienene Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufs­forschung (IAB) ergab, dass pro Monat etwa 2 Prozent der arbeitsfähigen Bürger­geldempfangenden einen Job antritt; unter Hartz IV waren es etwa 3 Prozent gewesen. Der geringere Druck und die erhöhten Bezüge führen zu Faulen­zertum, so die Interpretation der CDU.

Auch hier ist es notwendig, die Hintergründe zu betrachten. Eine Langzeit­studie des IAB belegt, dass Menschen nach einer Hartz-IV-Sanktion rascher ­eine Arbeit annahmen. Oft war das alle­dings sowohl für sie selbst als auch volkswirtschaftlich auf längere Sicht schädlich. Denn viele dieser Stellen waren im Niedriglohnsektor oder in der Leiharbeit angesiedelt und lagen oft weit unterhalb der Qualifikationen der Arbeitssuchenden. Die Wahrscheinlichkeit, bald wieder in die Arbeitslosigkeit zu rutschen, war bei diesen Menschen deutlich erhöht. Vier Jahre später verdienten sanktionierte Personen durchschnittlich knapp 8 Prozent weniger als die Vergleichsgruppe. Der Druck, jeden Job anzunehmen, führt somit häufig zur Dequalifizierung.

Arbeitslose, die alle Angebote der Arbeits­agentur ausschlagen, sind dagegen die große Ausnahme. Das Handelsblatt schätzt ihre Zahl auf 3.000. Trotzdem suggeriert Merz, dass es sich um ein Massenphänomen handelt. „Dass wegen der sehr wenigen Totalverwei­gerer Millionen andere leiden sollen, geht gar nicht“, sagt Judith Kerschbaumer, Leiterin des Bereichs Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bei ver.di. Diesen 3.000 Leuten das Existenzminimum zu entziehen wäre grundgesetzwidrig, wie das Bundesverfassungsgericht 2019 klargestellt hat – auch ein möglicher Kanzler Merz müsste das hinnehmen.

Der Mindestlohn muss steigen

Ebenfalls im Umlauf sind Fehlinformationen, dass Lohnabhängige oft weniger verdienen als Menschen im Bürgergeldbezug. Anfang des Jahres waren die ­Sätze um 12 Prozent erhöht worden, um die Inflation auszugleichen. Dagegen stieg der Mindestlohn auf Druck der Arbeitgeber nicht einmal um 4 Prozent. Trotzdem gibt es nach wie vor einen deutlichen Abstand beim Einkommen von Vollzeitbeschäftigten und Bürgergeldempfangenden, der je nach Familien­größe zwischen 412 und 771 Euro liegt, hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) ausgerechnet.

„Ganz klar ist aber, dass der Mindestlohn steigen muss,“ so Kerschbaumer. ver.di fordert für die nächste Runde eine Anhebung von derzeit 12,41 Euro auf 15 Euro pro Stunde und stützt sich dabei auf eine EU-Richtlinie. Die sieht einen Mindestlohn von 60 Prozent des ­Median-Einkommens vor, was gegenwärtig mehr als 14 Euro bedeuten würde.

Auch zum Thema Rente tobt ein politischer Streit. Zwar sind drei von vier Menschen über 55 Jahren erwerbstätig und damit mehr als jemals zuvor. Zugleich ist aber auch ein extremer Arbeitskräftemangel absehbar, wenn sich die sogenannten Babyboomer, die geburten­starken Jahrgänge, verabschieden. Man könnte die Rente ja erst ab dem 72sten Geburtstag auszahlen, schlägt die FDP vor. Dabei erreicht schon heute die Mehrheit der Beschäftigten das Ruhestandsalter nicht aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung heraus. Und das hat Gründe. Bei einer WSI-Befragung gaben 40 Prozent der Betriebsräte ihrem Unternehmen die Schulnote 5 oder 6, was Bemühungen um bessere Arbeitsbedingungen für Ältere angeht; 28 Prozent schrieben eine 4 ins Zeugnis.

Um die Lücke an Arbeitskräften zu schließen, hat Lindner eine weitere Idee ins Spiel gebracht: Die „Lust auf Überstunden“. Die will er durch Steuerfreiheit wecken. „Vollkommen wirklichkeitsfremd,“ so das Urteil der DGB-­Vorsitzenden Yasmin Fahimi. Schließlich würden in Deutschland schon jetzt jährlich bis zu 2 Milliarden Überstunden geleistet – mehr als die Hälfte davon unbezahlt.