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Foto: Dmitry Ilyshev/Depositphoto

Thorsten Nagelschmidt: Soledad

Ein Stück neuer deutscher Klassenliteratur in Kolumbien? Auf die Idee muss man erstmal kommen! Wir treffen die Ich-Erzählerin Alena, eine jüngere deutsch-russische Fotografin, die von ihrer Lebensgefährtin mitten in Südamerika zurückgelassen wurde. Und wir treffen Rainer, einen siebzigjährigen Deutschen, der vor langer Zeit ausgewandert ist und nun mit einer um mehrere Jahrzehnte jüngeren Frau und der gemeinsamen fünfjährigen Tochter in ­einem Dorf namens Soledad im kolumbianischen Dschungel lebt, wo er eine Lodge betreibt, die beliebt ist bei Expats und Hipstern aus aller Welt. Im Frühjahr 2020, gleich nachdem die Freundin abgereist ist, landet Alena an diesem abgelegenen Ort. Wie sie mit dem knurrigen Kerl in Kontakt tritt und wie sie einander ihre Lebens­geschichten erzählen, das geht weit über den vordergründig zu erwartenden Kulturclash zwischen Boomer und Millennial hinaus.

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Thorsten Nagelschmidt, der 2020 großen Erfolg hatte mit dem Roman Arbeit, ­einem glänzenden Panorama prekärer Beschäftigung in Berlin, legt diesmal die ­Lupe an und blickt vor allem auf diesen Rainer, der aus der Perspektive von Alena eingeführt wird als sexistischer, egozentrischer, arroganter, also neudeutsch „toxischer“ Mann. Und dann beweist der Autor eindrucksvoll, dass jedes Leben erzählenswert ist. Er unterbricht die Gegenwartspassagen immer wieder, indem er ­chronologisch die Biografie dieses Mannes nachzeichnet, vom Aufwachsen im Südwesten der BRD über eine Karriere bei VW und einer unglücklichen Ehe bis zum Ausbruch aus der bürgerlichen Enge mit Mitte vierzig und den Jahren arbeitsreicher Entbehrung und waghalsiger Abenteuer.

Hier treffen sich Alena und Rainer: Sie sind beide in finanziell bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ihnen wurde nichts geschenkt, und beide ergehen sie sich mehrmals in hinreißend geschriebenen Schimpftiraden auf diejenigen, denen es von Geburt an materiell nie an etwas gefehlt hat und die sich dennoch zu Opfern der Gesellschaft stilisieren. „Ich konnte nie gut lügen, aber eine Lüge zu sein, das war mir zur zweiten Natur geworden.“ Das sagt Alena, doch es trifft ebenso auf ­Rainer zu, der einem Seite um Seite näherkommt. Das Verdienst dieses grandios komponierten Romans besteht darin, dass er seine nur scheinbar langweiligen Hauptfiguren als zerrissene Charaktere etabliert, denen zu folgen leichtfällt, weil in ihnen die universellen Sehnsüchte eines jeden Menschen aufblühen. Christian Baron

S. Fischer, 448 S., 26 €

Tom Hillenbrand: Lieferdienst

Diese Berlin-Dystopie überzeugt mit einem abgedrehten Szenario: Über der Stadt tobt ein gnadenloser Konkurrenzkampf der Lieferdienste. Hunderte Kuriere, sogenannte Bringer, düsen auf speziellen Hoverboards über und durch Berlin und versuchen sich gegenseitig abzuhängen.

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Es geht um viel Geld, denn nur wer als erster die bestellten Waren zuliefert, wird bezahlt. Alle Produkte können in Sekundenschnelle mit 3-D-Druckern hergestellt werden, und das, was zu spät ankommt, wird weggeschmissen. Tom Hillenbrand dreht den Bestell- und Lieferwahnsinn der Gegenwart noch ein Stück weiter, und so wird noch deutlicher, wie fragwürdig der 24-Stunden-Konsum ist. Im Mittelpunkt des kurzen, rasanten Plots steht der Bringer Arkadi, der mysteriöse Sonderaufträge ausführen soll und ständig mit seinem Vater diskutiert, ob früher alles besser war, als es noch echte Geschäfte gab und die Lieferdienste noch nicht in einem tödlichen Wettbewerb verstrickt waren. Im Berlin der Zukunft hat der Konsum jedenfalls absurde Ausmaße angenommen: Es gibt Flatrates für Schuhe und Anprobier-Androiden, die alles testen, was geliefert wird. Eigentlich ein Alptraum, aber einer, der in Buchform für großes Lesevergnügen sorgt. Günter Keil

Kiepenheuer & Witsch, 192 S., 20 €

Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version

Irgendwo in der Lausitz, in den Nullerjahren: Ich-Erzählerin Jella, eine junge Frau, berichtet von ihrer toxischen Beziehung zu Yannick. Auf den ersten ­Seiten des Romans zeigt sie die schönste Version dieser Beziehung – ­eine tiefe Verbindung, große Nähe und Zärtlichkeit, eigentlich ein Traum.

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Doch kurz darauf folgt das Gegenteil: die hässlichste und härteste Version dieser Liebe. Jella erzählt, wie sie von Yannick gewürgt wurde, und wie sie ihn schließlich bei der Polizei anzeigt. Wie entsteht Gewalt gegen Frauen, und wie reagieren die Betroffenen? Wie ist es, wenn man in einer Beziehung die Kontrolle verliert, und wie kann man sie wieder zurückgewinnen? Diesen Fragen spürt Ruth-Maria Thomas indirekt nach, und sie macht das so schonungslos, das es weh tut. Andererseits schreibt sie so souverän, klar und hochwertig, dass die Lektüre ein großer Genuss ist. Jella fragt sich natürlich, wie es so weit kommen konnte, und sie schaut noch einmal genauer hin: auf ihr Aufwachsen in der Provinz, auf ihren Wunsch, von Männern begehrt zu werden, egal was sie selbst an Schmerz und Demütigung dafür in Kauf nehmen muss. Ein brillanter Roman um Liebe und Gewalt, Sex und Scham, Glück und Schmerz. Günter Keil

Rowohlt Buchverlag, 272 S., 24 €