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1941: In Mannheim brennt die Holzhandlung Notti nach einem AngriffFoto: MARCHIVUM, Bildsammlung

Henriette Lucchesi hat es sich nicht nehmen lassen. Trotz ihrer 99 Jahre erschien sie vor zwei Jahren, am 6. Oktober 2021, pünktlich zur Verlegung eines Stolpersteins in Mannheim. „Er hat es verdient“, sagte sie. Der Gedenkstein, der auf Initiative von ver.di-Mitglied Rainer Straßel vom Feuerwehrarchiv Mannheim in den Boden eingelassen wurde, ehrte ihren Großonkel Lion Wohlgemuth. Dieser war einst von den Nazis aus der Freiwilligen Feuerwehr der hessischen Stadt vertrieben worden. Der wohlhabende jüdische Kaufmann hatte seit 1897 das Hut- und Putzwarengeschäft seiner Frau zum Kaufhaus „Samt und Seide“ mit 500 Beschäftigten ausgebaut. Er war wohlhabend genug, um der Feuerwehr Mannheim, der er sich aus Leidenschaft angeschlossen hatte, über die Jahre immer wieder mit großen Geldbeträgen aus der Patsche zu helfen.

Henriette war damals Lehrmädchen im Kaufhaus ihres Großonkels. „Ich weiß noch, wie das ganze Personal an die Fenster gerannt ist und geschrien hat“, erinnert sie sich im Buch Die Mannheimer Feuerwehr in der NS-Zeit. Lion hatte fünf Jahre lang den Nazis widerstanden, die ihn als Juden aus seiner geliebten Feuerwehr ausschließen wollten. Dann war ­seine Kraft am Ende, er gab 1938 seine Uniform zurück und sagte: „Jetzt habe ich nichts mehr, was mich auf dieser Welt hält.“ Am Tag darauf stürzte er sich aus dem Fenster seines Kaufhauses in den Tod. In der Folge wurde sein Unternehmen von Carl Heinrich Vetter arisiert und ging später im Kaufhaus Horten auf, was immerhin mittels einer Stiftung aufgearbeitet wurde. Die Vernichtung von Lion Wohlgemuth aber war gründlich.

Die Debatte in die Betriebe tragen

Die Aufarbeitung der Geschichte von Lion Wohlgemuth und der Freiwilligen Feuerwehr Mannheims in der NS-Zeit ist der Initiative von Rainer Straßel und Michael Müller vom Feuerwehrarchiv Mannheim zu verdanken, dem Deutschen Feuerwehrmuseum Fulda, dem Deutschen ­Feuerwehrverband sowie dem Historiker Clemens Tangerding und der wissenschaftlichen Beirätin Ulrike Weckel. Die Idee war, sich zu vernetzen, um die Debatte über NS-Vergangenheit und Antisemitismus aus den Organisationen, (Gewerkschafts-)Seminaren, Akademien und Stiftungen herauszulösen und sie in die Betriebe zu tragen, die Beschäftigten selbst mit einzubeziehen. Die Debatte um die Feuerwehr im Nationalsozialismus sollte in den Feuerwehren ausgetragen werden.

2019 postete das Deutsche Feuerwehrmuseum schließlich auf Facebook eine Projektbeschreibung und forderte die Feuerwehrleute zur Teilnahme auf. Die Geschichte der deutschen Feuerwehren ähnele einem Puzzle, das vervollständigt werden wolle, gesucht würden Dokumente, Fotos, Urkunden mit Feuerwehrbezug aus jener dunklen Zeit, mit der man auch die Rolle der eigenen Wehr auf­arbeiten und dokumentieren wolle. Daraufhin stiegen die Anmeldungen in die Höhe und diverse Feuerwehrleute in die Keller, wo sie anfingen zu suchen. Man tat sich mit den Fachleuten von der Justus-Liebig-Universität zusammen und erarbeitete sich das Thema in vier Workshops, die über ein halbes Jahr verteilt wurden. So wurde aus der Idee ein Projekt, wurden Ausstellungen, wurde ein Buch. Die Feuerwehren von Marburg, Dömitz und Schwedt schlossen sich an und machten mit, auch ihre Recherchen mündeten in viel besuchten Ausstellungen direkt vor Ort.

Aufarbeitung mit den Gemeinden

Seit 2021 hat das Feuerwehrprojekt Zuwachs und eine größere Perspektive bekommen. Die Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen und der Deutsche Feuerwehrverband (DFV) Berlin haben das gemeinsame Projekt „Das Dritte Reich und wir“ vorgestellt. Dörfer und Städte aus ganz Deutschland erhalten dabei die Möglichkeit, sich mit Spuren des Nationalsozialismus in der eigenen Gemeinde auseinanderzusetzen und die Ergebnisse vor Ort zu präsentieren. „Nur wenige Bürger*innen haben je persönlich die Geschichte des Nationalsozialismus erforscht“, sagt die Historikerin Ulrike Weckel von der JLU. „Es ist eben ein Unterschied, ob ich eine Dokumentation im Fernsehen über Zwangsarbeit sehe oder ob ich etwas über einen Zwangsarbeiter beim Bauern oder Gastwirt im eigenen Ort erfahre.“

Das Projekt wolle nicht mora­lisieren oder erziehen, sondern Neugier wecken für konkrete Details und Zusammenhänge der NS-Geschichte, die gar nicht bekannt seien.

Die Entstehungsgeschichte, aber vor allem die unrühmliche Rolle der Mannheimer Feuerwehr in der NS-Zeit, ist entsprechend umfassend mit vielen Fotos, Faksimiles und Dokumenten in diesem spannenden Buch dokumentiert; einige Passagen sind zusätzlich in englischer und französischer Sprache übersetzt. Es verbindet ganz bewusst das Wissen um die Popularität der Feuerwehr mit unangenehmen Wahrheiten, an denen auch der größte Fan nicht vorbeikommt. Etwa wie die Feuerwehrleute tatenlos herumstanden und zusahen, als die November-­Pogrome wüteten und die Synagogen brannten.

MICHAEL MÜLLER, RAINER STRASSEL, MARION KÖNIG, KARL-HEINZ FALKENHAINER, CLEMENS TANGERDING: DIE MANNHEIMER FEUERWEHR IN DER NS-ZEIT. VERLAG WALDKIRCH, 240 SEITEN, 25 €, ISBN 978-3-86476-160-7