Ausgabe 08/2024
Den Osten verstehen
Domenico Müllensiefen: Schnall dich an, es geht los
Manchmal müssen sie sich begafft vorkommen wie Tiere im Zoo, diese „Ostdeutschen“. Nicht nur nach den jüngsten Landtagswahlen mit erschreckenden Erfolgen der AfD fragen sich viele „Westdeutsche“: Wie ticken die bloß, diese Leute dort drüben? Das ist schon ein starkes Stück, umso mehr 34 Jahre nach dem Ende der DDR. Dabei sind es hüben wie drüben Menschen mit allen Widersprüchen, die für Gutes und Schlechtes sorgen. Womöglich braucht es die Kunst, um das offenzulegen. Domenico Müllensiefen schafft das ganz wunderbar in seinem zweiten Roman Schnall dich an, es geht los.
Schauplatz ist Jeetzenbeck, ein fiktiver Ort in der Altmark. Hier gibt es keinen Bahnhof mehr, keine Bankfiliale, keine Schule und keinen Arzt. Und hier lebt der mittelalte Protagonist Marcel seit seiner Geburt. Er arbeitet in einem Imbiss, trägt Zeitungen aus, verbringt Zeit mit seinem Freund Pascal, streitet mit seinen Eltern und verfolgt die Spiele des 1. FC Magdeburg. Es ist nicht so, dass Marcel den Absprung nach Leipzig oder Berlin verpasst hat, denn eigentlich fühlt er sich wohl. Ihn belasten die Verhältnisse, die sich im Abbau der Infrastruktur materialisieren, aber auch in der Flucht seiner großen Liebe Steffi und dem Suizid seiner Schwester Vanessa. Auf der ersten Zeitebene, die 2023 spielt, ist Steffi seit 20 Jahren fort und Vanessa ebenso lange tot. Die zweite Ebene (2003) rekapituliert, wie es so weit kommen konnte.
Müllensiefen zeigt eine heterogene Welt, die im falschen Scheinwerferlicht großer Medien fast immer als homogen erscheint, etwa wenn es um Migrantenfeindlichkeit geht oder wenn Verschwörungsmystiker sich versammelt haben. In diesem Roman kommen wir den Menschen näher, auch den weniger sympathischen, und verstehen dadurch „den Osten“ besser. Müllensiefen poetisiert den Alltag der Leute und beweist mit seiner leicht stilisierten Sprache, wie erzählenswert die Provinz jenseits urbaner Zentren ist. Seine Erzählökonomie ist auf angenehme Weise verschwenderisch, weil sie Charaktere und deren Konflikte behutsam entwickelt.
Die dramaturgischen Kniffe geben den Autor als Schreibschulabsolventen zu erkennen – was in diesem Ausnahmefall ein Kompliment ist. Müllensiefen arbeitet gekonnt mit Plot Twists und gibt dabei niemanden der Lächerlichkeit preis. Wie schon in seinem Debüt „Aus unseren Feuern“ (2022) schreibt er von „denen da unten“, ohne zu moralisieren. Dieser Roman ist Gegenwartsliteratur in Echtzeit – und zugleich ein Buch, das bleiben wird. Christian Baron
Kanon, 352 S., 25 €
Kathryn Scanlan: Boxenstart
So wurde noch nie über Pferde geschrieben und vor allem noch nie über den Pferderennsport. Denn dieser Roman besteht aus den Notizen einer jungen Frau, die schon mit 18 Jahren Vollzeit auf einer Pferderennbahn gearbeitet hat und dann mit einer Rennbahnfamilie kreuz und quer durch die USA gezogen ist. Es ist ein intensives Buch über die harte Arbeitswelt einer männerdominierten Branche. Pferdepflegerin Sonja, die später auch Trainerin wird, berichtet von langen Tagen im Stall, endlosen Trainingsrunden, Medikamentenmissbrauch, blauen Flecken, Schürfwunden und Prellungen. Sie zieht die Lesenden in eine sonst verborgene Welt, zeigt Stallburschen, Jockeys, Trainer, Trinker, Arbeitsreiter und Pferdeführer. In einem trockenen Ton schildert die amerikanische Autorin Kathryn Scanlan die kurzen Szenen aus Sonjas Alltag. Nach vielen harten Jahren als Pflegerin und Trainerin schafft die Hauptfigur schließlich den Absprung, studiert Justizvollzug und nimmt einen Job im Gefängnis an. Doch der Galoppsport bleibt ihr im Blut, und sie träumt fast täglich davon – ihre Erlebnisse hinter den Rennbahnkulissen haben sich eingebrannt. Ein geradliniges Porträt einer zupackenden Frau. Günter Keil
Culturbooks. Ü: Jan Karsten. 184 S., 22 €
Anne Tyler: Drei Tage im Juni
Anne Tyler feiert Jubiläum. Drei Tage im Juni ist der 25. Roman der US-Autorin, die meisterhaft wie keine andere den kleinen Alltag und die großen Gefühle, die er auslöst, beschreibt. Auch Gail plagen ganz simple Probleme: Sie trägt am liebsten Grau („Ich habe es nicht so mit Farben“), gilt im Kollegenkreis als wenig einfühlsam und hat nicht selten das Gefühl, „dass jeder Mensch auf seinem eigenen Planeten lebt“. Nun hat sie aber ihren Job verloren, morgen heiratet ihre einzige Tochter und jetzt steht auch noch der Ex-Mann vor der Tür und sucht eine Übernachtungsmöglichkeit – das bringt Gail dann doch ein wenig aus der Bahn. Liebevoll und mit Blick fürs Detail zieht uns die mittler-weile 83-jährige Tyler ins verschlossene Gemütsleben ihrer sperrigen Protagonistin, bis aus ihrem überschaubaren, eher langweiligen Dasein ein Alltagsheldeninnenepos wird: „In meinen Augen waren Tränen, und ich hatte keine Ahnung warum.“ Wie ein Bildhauer aus einem Steinblock arbeitet Anne Tyler aus dem scheinbar Belanglosen die ganze Größe des Lebens heraus – und bekommt dann noch ein Happyend hin, das sich gut anfühlt und kein bisschen kitschig. Thomas Winkler
Kein & Aber 2024. Ü: Michaela Grabinger. 208 S., 22 €