Ausgabe 01/2025
„Aufrecht und ehrlich bis auf die Knochen“
Nur 39 Jahre! Als Heinz Kluncker am 1. Juli 1964 zum Vorsitzenden der Gewerkschaft ÖTV gewählt wird, ist er damals der jüngste Vorsitzende einer DGB-Gewerkschaft. 18 Jahre steht er an der Spitze seiner Organisation. 18 Jahre, in denen er zum Symbol für gewerkschaftliche Wirkungskraft wird. Nach seinem Rücktritt aus Krankheitsgründen 1982 erweisen ihm bei seiner Verabschiedung Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und Alt-Kanzler Helmut Schmidt (SPD) die Ehre. Sie würdigen damit nicht nur sein Wirken als Gewerkschafter, sondern auch seinen außergewöhnlichen Lebensweg.
Vater Schlosser, Mutter Hausfrau
Heinz Kluncker, geboren am 20. Februar 1925 in Wuppertal-Barmen, wächst in einem sozial-demokratischen Milieu auf. Sein Vater ist Schlosser, seine Mutter Hausfrau. Nach der Schule und einer Ausbildung zum Kaufmannsgehilfen wird er bei der Kinderlandverschickung dienstverpflichtet, Ende 1943 dann zur Wehrmacht eingezogen, im Mai 1944 in die Bretagne verlegt. Als Jugendlicher von den Nazis geblendet, erkennt er während des Krieges den wahren Charakter des Regimes und entscheidet, „nicht auf die Befreier“ zu schießen – und desertiert.
Nach der Kriegsgefangenschaft in den USA kommt er 1946 zurück nach Wuppertal. Er arbeitet dort kurzzeitig als Polizist und tritt in die Gewerkschaft ÖTV ein, damals zuständig für die Polizei. Seine weiteren Stationen: Kreis-Parteisekretär der SPD, Studium an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, Praktikum bei der Dortmunder Hüttenunion und schließlich im April 1952 Volontär im Tarifsekretariat der ÖTV in Stuttgart. Heinz Kluncker ist angekommen. Mittlerweile verheiratet, hat er nun nicht nur einen sicheren Arbeitsplatz, sondern bekommt auch die Chance, nach und nach mehr Verantwortung zu übernehmen.
In nur 12 Jahren vom Volontär zum Chef
1958 wird Kluncker Bundesarbeitersekretär, 1961 Mitglied im geschäftsführenden Hauptvorstand und schließlich 1964 Vorsitzender seiner Gewerkschaft, der ÖTV. Ohne den berühmten „Stallgeruch“ brauchte er nur 12 Jahre vom Volontär zum Chef. Offensichtlich hatte er seine ÖTV in dieser Zeit beeindruckt. Sein Biograf Hans-Otto Hemmer schreibt: „Er ist vital, durchsetzungsstark und autoritär, hat (bergischen) Scharm und Charisma, ist ein belesener und begabter Redner, einfallsreich und schlagfertig.“
Das Vertrauen seiner Organisation und den Spielraum, den er als Vorsitzender der ÖTV hat, weiß Heinz Kluncker schon in den ersten Jahren seiner Amtszeit zu nutzen: Er wird zum gewerkschaftlichen Wegbereiter einer Politik der Aussöhnung mit den östlichen Nachbarstaaten, beteiligt sich mit eigenen Vorschlägen an der Diskussion um die Notstandsgesetze und streitet erfolgreich für das Koalitionsrecht der Berufs- und Zeitsoldaten.
Seine Politik stößt in gewerkschaftlichen Kreisen zwar nicht nur auf Zustimmung – das irritiert ihn aber wenig. Er hat seinen eigenen Kopf, zeigt sich dabei nie stur, sondern als „Pragmatiker mit Grundsätzen“, schreibt Die Zeit über ihn.
Das kennzeichnet auch seine Tarifpolitik. Kluncker ist Realist, konzentriert sich auf das Durchsetzbare, stets gewillt, Kompromisse zu schließen. In der Öffentlichkeit präsentiert er sich zwar gern als unnachgiebig, seine Gegenüber lernen ihn dabei aber als ruhigen, kompeten-ten und verlässlichen Menschen kennen. Das Ziel, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst an die Einkommen und Arbeitszeit in der Privatwirtschaft heranzuführen, verliert er dabei nie aus den Augen. Schrittweise erreicht er das Ziel.
So wird für die Arbeitnehmer*innen im öffentlichen Dienst die Zusatzversorgung ausgehandelt (1966), der Monatslohn für Arbeiter*innen (1970), die 40-Stunden-Woche (1972), das 13. Monatseinkommen (1973). Stocken die Verhandlungen, ist er bereit, seine Organisation in einen Arbeitskampf zu führen. So wie im Februar 1974.
Die ÖTV fordert 15 Prozent mehr Lohn und Gehalt. Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) spricht sich öffentlich gegen ein zweistelliges Tarifergebnis aus. Für Kluncker ist eine rote Linie überschritten; denn nicht der Bundeskanzler, sondern Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) ist der Tarifpartner des Bundes. Die Forderung von Brandt sieht er als „Lohnleitlinie“, was gewerkschaftspolitisch nicht akzeptiert werden kann. Es gilt nun, gegen seinen Parteifreund und Kanzler „die Tarifautonomie zu verteidigen“.
In nur drei Tagen Streik wird ein Kompromiss erzielt: 11 Prozent mehr Lohn und Gehalt. Willy Brandt ist angeschlagen, aber auch Heinz Kluncker. Für viele Mitglieder ist das Tarifergebnis nicht hoch genug und er muss um deren Zustimmung in der Urabstimmung kämpfen. Andere kritisieren, die Höhe des Ergebnisses wäre schädlich für die Wirtschaft. Als dann Willy Brand wenige Wochen später zurücktritt, gilt Kluncker einigen als „Kanzlerkiller“ – obgleich der Rücktritt Brandts Folge der Enttarnung seines persönlichen Referenten Günter Guillaume als Spion der DDR ist.
Während seiner Amtszeit sucht Kluncker so oft es geht den Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben und Verwaltungen. Er begreift sich als ihr „erster Sprecher“, für sie ist er respektvoll „der Dicke“ – nicht nur wegen seiner Körperfülle. Gleichzeitig engagiert er sich auf der internationalen Ebene: Er ist lange Jahre Präsident der Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD), pflegt besondere Beziehungen zu Israel, steht in Polen der Solidarnosc beim Aufbau zur Seite und er hält enge Kontakte zu den USA.
Die aufreibende Arbeit als Vorsitzender zerrt an seiner Gesundheit, 1982 muss Kluncker zurücktreten. Doch zuvor stellt er noch die Weichen für seine Nachfolge: Er spricht sich für Monika Wulf-Mathies aus, die mit ihrer Wahl die erste Frau an der Spitze einer DGB-Gewerkschaft wird.
Heinz Kluncker bleibt dennoch bis ins hohe Alter aktiv, setzt sich 1983/84 für Gewerkschaftsrechte in der Türkei ein oder engagiert sich für eine Kinderklinik in Tuzla (Bosnien-Herzegowina) und überbringt 1997 persönlich dringend benötigte medizinische Geräte.
Und stets wachsam
Nach seinem Rücktritt hatte Kluncker sich verboten, öffentlich zu Gewerkschaftsfragen Stellung zu beziehen. Es gibt nur eine Ausnahme: Auf Bitte des damaligen ÖTV-Vorsitzenden, Herbert Mai, äußert er sich beim ÖTV-Gewerkschaftstag 2000 in Leipzig zum ver.di-Gründungsprozess, der damals zu stocken droht: „Ich hoffe, dass von hier aus ein Signal ausgeht und Bedenken, die wirklich bestehen, ausdiskutiert werden können, aber andererseits nicht vor lauter Korinthenkacken die große Aufgabe des Zusammenschlusses vergessen wird.“ Den Delegierten gibt er noch eine weitere Botschaft mit auf den Weg: „Lasst uns wachsam bleiben! Das fing auch damals ganz harmlos an … .“
Heinz Kluncker stirbt 2005 kurz nach seinem 80. Geburtstag. Er sei immer „gerade, aufrecht und ehrlich bis auf die Knochen“ gewesen, so der damalige ver.di-Vorsitzende, Frank Bsirske, „geachtet auch von denen, die andere Interessen vertraten als er.“