ver.di publik: Unter anderem die SPD, die Grünen und die Linken ziehen in den Wahlkampf mit einer Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro die Stunde. Auch ver.di fordert das. Wie realistisch ist die Forderung?

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Andrea Kocsis ist stellvertretende ver.di-Vorsitzende und Mitglied der Mindestlohn­kommissionKay Herschelmann

Andrea Kocsis: Der Mindestlohn in Deutschland muss nach Unionsrecht im Jahr 2026 bei 15 Euro liegen. Das geht aus der EU-Mindestlohnrichtlinie hervor, die im November 2022 in Kraft getreten ist, auch wenn der General­anwalt am Europäischen Gerichtshof aktuell empfiehlt, die Richtlinie zu annullieren, mit der Begründung, die EU habe keine Kompetenz, ein solches Gesetz zu erlassen. Ein Urteil steht noch aus. Deshalb gilt momentan: Laut der Richtlinie soll der Mindestlohn bei 60 Prozent des Medianeinkommens liegen. Das sind derzeit schon deutlich über 14 Euro. Da die Durchschnittslöhne aber weiter steigen werden, brauchen wir 2026 einen Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde. Das werden wir als Arbeitnehmerseite in der Mindestlohnkommission natürlich fordern. Es ist aber nicht absehbar, dass die Arbeitgeberseite der EU-Vorgabe ­folgen wird. Deshalb müssen wir politischen Druck aufbauen. Das Thema ist emotional und spielt bei der Bundestagswahl eine große Rolle. Bei dieser Wahl werden die Weichen für die Weiterentwicklung des Mindestlohns gestellt. Wir stellen Forderungen an die demokratischen Parteien zur Bundestagswahl 2025 und befragen alle Wahlkreiskandidat*innen, ob sie sich nach der Wahl für einen Mindestlohn von 15 Euro einsetzen würden.

Warum ist eine Erhöhung des Mindeststundenlohns auf 15 Euro für Millionen ­Beschäftigte von so großer Bedeutung?

Für die Millionen Menschen, die in Deutschland einen Mindestlohn verdienen, ist die ­Höhe des Mindestlohns von großer Bedeutung, denn wer wenig verdient, kann es sich nicht leisten, dass sein Lohn hinter dem anderer zurückbleibt. Beim Mindestlohn geht es um einen Mindestschutz für Arbeitnehmer*innen, damit ihre Existenz abgesichert ist und sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Diese Menschen üben wichtige Berufe aus und ­müssen von ihrer Arbeit leben können. Die ­Erhöhung ist aber nicht nur für die Arbeit­nehmer*innen wichtig, die den Mindestlohn ­erhalten, sondern viel mehr Arbeitnehmer*innen profitieren davon. Der Mindestlohn ist zu einem Motor für den Abbau des Niedriglohnsektors geworden. Laut Statistischem Bundesamt ist der Niedriglohnsektor seit seiner Ein­führung deutlich geschrumpft. Unsere Erfahrungen zeigen, dass eine Erhöhung des Mindestlohns eine Erhöhung anderer Löhne auslöst, nicht zuletzt in unseren Tarifverträgen.

Enorme Preissteigerungen haben die ­Wirkung des letzten großen Sprungs von 10 auf 12 Euro Mindestlohn, der Menschen im Niedriglohn­bereich ein besseres Ein­kommen und mehr Teilhabe ermöglichen sollte, schnell wieder minimiert. Was muss passieren, damit der Mindestlohn in Zukunft nicht unter einer hohen Inflation ­einfach wieder so verpuffen kann?

Aufgabe der Mindestlohnkommission ist es, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ­sowie die Preis- und Lohnentwicklung zu beobachten und angemessen darauf zu reagieren. Das bedeutet, dass in Zeiten hoher Inflation der Mindestlohn mindestens so schnell steigen muss wie die Preise. Dafür setzen wir uns als Arbeitnehmerbank in der Mindestlohnkom­mission ein. Sollte die Arbeitgeberseite erneut blockieren, muss die Politik – wie beim Sprung auf 12 Euro – eingreifen und einen existenz- und teilhabesichernden Mindestlohn gesetzlich festlegen.

  • INTERVIEW: Petra Welzel