Ausgabe 01/2025
Hohe Tarifbindung hilft gegen soziale Spaltung
ver.di publik: Die Tarifbindung in Deutschland ist immer weiter gesunken. Was heißt das für den sozialen Zusammenhalt?
Thorsten Schulten: Völlig unbestritten ist: Je höher die Tarifbindung in einem Land, desto geringer ist das Ausmaß der sozialen Ungleichheit. In Deutschland arbeiten gegenwärtig nur noch 50 Prozent in einem tarifgebundenen Betrieb, im Niedriglohnsektor sogar nur noch jeder dritte. In der alten Bundesrepublik und zu Beginn der 1990er Jahre hatten wir etwa eine Quote von 80 Prozent.
Was könnte die Politik tun?
In Europa gibt es viele Länder mit einer Tarifbindung von über 80 Prozent. Dazu zählen die skandinavischen Länder, Frankreich, Spanien, Italien, Österreich, Belgien und die Niederlande. In den Niederlanden ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad nicht höher als bei uns, aber dort werden alle wichtigen Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt. In Spanien gelten sogar fast alle Tarifverträge automatisch für sämtliche Betriebe der entsprechenden Region und Branche.
Und in Deutschland?
Hier gilt ein Tarifvertrag nur für die Unternehmen, die im Arbeitgeberverband organisiert sind. Allerdings können Arbeitgeber und Gewerkschaft gemeinsam zum Arbeitsministerium gehen und ihren Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären lassen und so die Schmutzkonkurrenz abwehren. Das ist zum Beispiel im Wach- und Sicherheitsgewerbe, bei der Weiterbildung oder im Friseurhandwerk geschehen. Aber in vielen Bereichen blockieren die Arbeitgeber. Im Handel haben sie sich Anfang der 2000er Jahre herausgezogen und die Tarifbindung ist dramatisch eingebrochen. Es braucht Mechanismen, dass in allen Betrieben die gleichen Mindeststandards herrschen und Arbeitgeberverbände nicht einfach blockieren können.
Was bringt die EU-Mindestlohnrichtlinie?
Alle Länder mit einer Tarifbindung unter 80 Prozent sind aufgefordert, nationale Aktionspläne aufzulegen. Was darin stehen soll, gibt die Richtlinie aber nicht vor. Das Bundesarbeitsministerium hatte das Thema aufgegriffen, auch der Koalitionsvertrag sah eine Stärkung der Tarifbindung vor. Aber real hat die Ampelkoalition davon null umgesetzt. Das lag primär an der FDP, aber auch das Arbeitsministerium hätte schneller in die Spur kommen müssen, um zum Beispiel das Bundestariftreuegesetz für öffentliche Aufträge durchzusetzen. Lediglich die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro ist nach der letzten Bundestagswahl rasch umgesetzt worden. Er liegt aber aktuell auch noch deutlich unter der Orientierungsgröße der EU von 60 Prozent des Medianlohns, was etwa 15 Euro entsprechen würde.
- Interview: Annette Jensen