Ausgabe 01/2025
ver.di-Stimmen zur Wahl
„Darüber müssen wir sprechen“
Birgit zur Nieden arbeitet in Berlin bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung
„Wichtig ist, dass wir anerkennen, dass Deutschland schon seit Generationen eine Migrations- und Einwanderungsgeschichte hat. Es gibt für viele Lebensbezüge über Nationalstaatsgrenzen hinweg. Das ist eine positive Realität. Die aktuellen Debatten werfen uns da zurück. Die Diskurse sind oft spaltend, Menschen, die Rassismus- und Diskriminierungserfahrung machen, bekommen Zweifel, ob sie in dieser Gesellschaft richtig sind. Bei Jugendlichen ist das besonders gefährlich. Wir brauchen inklusive Diskussionen über die Probleme unserer Gesellschaft, die nicht von vornherein ausgrenzend sind.
Die Politik müsste ein klares Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft abgeben. Sie müsste auch Rassismus als Problem wahrnehmen und angehen. In Berlin gibt es ein Partizipationsgesetz, das dafür sorgt, dass die Vielfalt Berlins im öffentlichen Dienst sichtbar wird. Ziel ist es, dass die Perspektiven von allen Berliner*innen eingebracht und berücksichtigt werden können.
Probleme hierzulande werden oft überdeckt. Wenn ein psychisch Kranker ein schreckliches Attentat begeht, hat das erstmal nichts mit dessen Herkunft zu tun. Trotzdem wird oft gleich eine ganze Gruppe diskriminiert. Die Politik lenkt mit Forderungen nach repressiver Migrationspolitik davon ab, dass sie keine Antworten auf wichtige Fragen hat, wie nach einer gerechten Arbeitsmarktpolitik, nach einer gerechteren Lohn- und Reichtumsverteilung. Doch was soll diese Ablenkung bewirken? Die Politik soll Lösungen anbieten für gesellschaftliche Fragen.“
„Ich werde mir die Parteiprogramme genau anschauen“
Dzhemile Umerova hat seit August 2024 auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Die gebürtige Krimtatarin von der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer darf damit zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl mit abstimmen
„Die Wahlentscheidung fällt mir nicht leicht. Ich will mir dafür auch noch Zeit nehmen. Bislang habe ich noch keine Parteiprogramme gelesen, nur Berichte über Parteitage und die Werbeplakate hier in Magdeburg gesehen. Dabei finde ich insbesondere die aggressiv-populistische Werbung der AfD eine Katastrophe. Wichtig für meine Entscheidung sind für mich Themen wie die Willkommenskultur, Bildung, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Diversity in Unternehmen, gegenseitige Integration, die Weiterentwicklung der Kranken- und Rentenversicherung sowie alternative Energien und Klimaschutz. Da werde ich genau in die Programme schauen.
Ich arbeite in einer Fachstelle des Landes für die Beratung von migrantischen Fach- und Arbeitskräften. Ich selbst berate sie beim Ankommen, bei Problemen oder Missverständnissen mit dem Arbeitgeber. Ich unterstütze Migrant*innen dabei, dass sie sich organisieren und gegen unfaire Arbeitsbedingungen und Praktiken von Arbeitgebern vorgehen. 2017 bin ich aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, in erster Linie, um mit einem Auslandsaufenthalt etwas für meine Karriere zu tun. Ich weiß, wie es ist, hier anzukommen, welche bürokratischen Hürden es gibt. Die Ampelregierung hat schon Verbesserungen durchgesetzt, etwa bei der doppelten Staatsbürgerschaft. Ich finde es aber merkwürdig, dass man ohne deutsche Staatsbürgerschaft nicht wählen darf, auch wenn man schon lange hier lebt.“
„Es tut mir weh, dass ich nicht wählen darf“
Hilary Bown lebt seit 2003 in Deutschland. Die US-Amerikanerin arbeitet in Berlin als freie Journalistin
„Ich bin ein politischer Mensch. Da tut es mir weh, dass ich nicht wählen darf, weder bei Kommunal- noch bei den anstehenden Bundestagswahlen, weil ich keine deutsche Staatsbürgerschaft habe. Die Gesetzesänderung vom vergangenen Sommer, die zwei Staatsangehörigkeiten ermöglicht, kam einfach zu spät. Ein kaputtgesparter öffentlicher Dienst konnte viele der Anträge bis zum vorgezogenen Wahltermin gar nicht bearbeiten. Viele meiner Freunde können daher wieder nicht mitwählen.
Die Deutschen hängen beim Wahlrecht im EU-Vergleich ziemlich hinterher. In einigen anderen Ländern ist die Teilnahme sogar an Bundeswahlen ohne die jeweilige Staatsbürgerschaft möglich. Mehrere Jahrzehnte in einem Land zu leben ohne politische Mitbestimmungsrechte ist ungerecht. Das sorgt für Unruhe.
Wenn mehr Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die in Deutschland leben, wählen dürften, dürften die Parteien im Wahlkampf nicht so hetzen, denn ohne Migrant*innen steht die deutsche Wirtschaft still. Die größten Sicherheitsfragen unseres Landes sind soziale Fragen. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Auch wir müssen gehört werden, bei Themen wie Krieg und Frieden, Wohnen, Soziales, aber auch bei großen Fragen, wie Rente, Klimawandel, der eigenen Zukunft und der unserer Kinder.“