Ausgabe 01/2025
Zu jung, zu viel
Janine Adomeit: Die erste halbe Stunde im Paradies
Wenn die Sexszene eine Königdisziplin des Schreibens ist, dann bleibt das Schildern von Menschen beim Verrichten ihrer Erwerbsarbeit etwas für literarische Kärrner. Wer Menschen beim Tagewerk zeigt, muss oft genug auf Spaß, Spannung und Sprachspiele verzichten. Vielleicht ist das der Grund, warum Lohnarbeit viel seltener in Romanen vorkommt als Sex, obwohl sie in fast jedem Leben so viel mehr Zeit in Anspruch nimmt. Noch seltener ist in der Gegenwartsprosa eine spezielle Ausprägung anzutreffen: die unbezahlte Sorgearbeit. Allein schon deshalb ist der zweite Roman von Janine Adomeit bemerkenswert. Der Titel Die erste halbe Stunde im Paradies klingt so, als gehe es um erotische Abenteuer, doch widmet sich das Buch dem Phänomen der „Young Carers“ – also Minderjährigen, die Angehörige pflegen.
Die Pharmavertreterin Anne trifft ihren Bruder Kai nach langer Funkstille wieder. Vor Jahren haben sie sich um ihre chronisch kranke Mutter gekümmert. Wir erfahren etwa, was eine „Duschwache“ ist und warum man bei Erwachsenen niemals von „Windeln“ sprechen sollte, sondern immer von „Inkontinenzhosen“. Im Laufe der aufreibenden Zeit und des körperlichen Verfalls der Mutter zerbricht die Geschwisterbeziehung. Nun sucht Kai den Kontakt zur Schwester, die das Misstrauen packt, denn Kai ist suchtkrank und erhofft sich über Anne möglicherweise nur einen leichteren Zugang zum ersehnten Stoff.
So genau lässt sich das nicht herauslesen, denn die Story ist aus Annes Perspektive geschrieben. Adomeit hätte es sich als Autorin leicht machen und eine Passionsgeschichte aufschreiben können mit lupenreinen Heldinnen. Das wäre womöglich ergreifend gewesen, literarisch ambitioniert aber ist der tatsächliche Zugriff der Autorin. Anne hat eine Mauer um sich herum hochgezogen; sie wertet sich auf, indem sie andere abwertet.
Das wird schon früh im Text auf subtile Weise offensichtlich, vor allem in den mitreißend erzählten Bewusstseinsströmen der Protagonistin und in den Dialogen. Ihre Traumata sind genauso wenig bearbeitet wie die ihres Bruders, und daraus erwächst eine fesselnde soziale Dynamik. Auf verschiedenen Zeitebenen und in raffiniert aufeinanderfolgenden Episoden rekapituliert Adomeit, was es heißt, in jungen Jahren zu viel Verantwortung übernehmen zu müssen – und sagt damit zugleich etwas aus über eine Gesellschaft, die in solchen Fällen viel zu wenig Hilfe leistet.
Christian Baron
Arche Verlag, 272 Seiten, 23 Euro
Samantha Harvey: Umlaufbahnen
Völlig zurecht wurde dieser reflektierende Roman mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet. Er dreht sich um sechs Astronaut*innen, die in einer Raumstation durchs All schweben. Den Planeten Erde umkreisen sie in 90 Minuten, also 16 Mal jeden Tag. Das Team besteht aus zwei Frauen und vier Männern aus unterschiedlichen Nationen, die für mehrere Monate auf engstem Raum miteinander arbeiten und leben. Samantha Harvey beobachtet die Astronaut*innen bei ihrem Alltag im All, und sie zeigt deren Blicke auf die Erde; auf Vulkane, Wüsten, Meere, auf alle Kontinente, immer wieder aufs Neue. Denn das Kreisen und Schweben hat kein Anfang und kein Ende, und die Schwerkraft und das Zeitempfinden sind außer Kraft gesetzt. Wie verändern sich unter diesen Bedingungen das Denken und Fühlen? Was lernen die Menschen in der Raumstation über die Erde, die von oben so friedlich, so perfekt aussieht? Diesen Fragen spürt Harvey in einer eleganten, teilweise poetischen Sprache nach. Die Sinne der Astronaut*innen weiten sich zunehmend, und sie fragen sich: Warum kriegt es die Menschheit einfach nicht auf die Reihe, im Frieden mit sich selbst und diesem herrlichen Planeten zu leben? Günter Keil
DTV, übersetzt von JULIA WOLF, 224 S., 22 €
Matias Faldbakken: Armes Ding
Matias Faldbakken gilt in seiner Heimat Norwegen als interessantester Autor seiner Zeit. Der Roman, der die Geschichte des Bauernjungen Oskar und seiner ungewöhnlichen Verbindung zu einem „wilden Kind“ erzählt, erzeugt eine einzigartige Mischung aus voyeuristischer Vorfreude und gleichzeitiger Sorge vor der nächsten Wendung. Oskar, ein 19-jähriges Waisenkind, dessen eintöniges Leben auf einem Hof von Einsamkeit geprägt ist, entdeckt eines Tages im Wald ein stummes, verwahrlostes Kind und nimmt es bei sich auf. Ein Dorfarzt erkennt bei dem Mädchen eine Wachstumsstörung. Oskar ist weder klug noch besonders weltgewandt, doch er entwickelt eine Fürsorge, unter der das wilde Kind zu einer jungen Frau heranwächst. Mit der Hilfe der anderen Hofbewohner lernt sie grundlegende Umgangsformen und entwickelt eine skurrile Art zu sprechen. Was zunächst als hingebungsvolle Pflege beginnt, entgleitet Oskar und öffnet Türen zu einer unbehaglichen Intimität, die Fragen über Abhängigkeit und die Grenzen menschlicher Nähe aufwirft. Ein Zwischenfall zwingt Oskar und das Mädchen schließlich, den Hof zu verlassen. In der Großstadt gerät sie in den Fokus der Öffentlichkeit, wo sie mit ihrer besonderen Art Aufsehen erregt – mit unvorhersehbaren Folgen für beide. Rita Schuhmacher
btb Verlag, 224 S., 22 €