Ausgabe 02/2025
Der Preis des Wohlstands

Kathrin Bach: Lebensversicherung
Halt, stopp, bitte weiterlesen! Ja, der Titel des Buches klingt nach Aktenordnern, Lochverstärkungsringen und Nachbesserungsbegleitkosten. Doch bei diesem Roman haben wir es mit einem formbewussten, sprachspielerischen, ja: sinnlichen Kunstwerk zu tun. In Kathrin Bachs Debüt berichtet eine Ich-Erzählerin vom Heranreifen in einer westdeutschen Familie, die manch konservativen Politiker der Gegenwart in Nostalgie versetzen würde: Vorstadt, Fertighaus, Versicherungsbüro. Wohlstand für alle, Furcht für niemanden? Nun ja.

Mutter, Vater, Opa, Onkel – sie alle sind Kaufleute. Sie arbeiten hart. So hart, dass es eine Trennung zwischen Arbeit und Privatem kaum gibt; auch darum, weil beinahe das gesamte Dorf beinahe alles und jeden gegen beinahe alles bei ihnen versichert hat. Dass der Großvater nicht ins Freibad geht, liegt etwa daran, dass ihm dort auf Schritt und Tritt die Sorgen seiner Mitmenschen begegnen. Das ist der Preis des bescheidenen Wohlstands, von dem dieser Text berichtet. Er verschleiert nicht das Unbehagen seines Themas in einem Land, das unter der Nazi-Herrschaft viele Millionen Menschen mit bürokratischer Perfektion ermordete.
Diese Familiengeschichte zu erzählen, ohne einen spöttischen Ton anzuschlagen, ist nicht einfach. In diesem Roman gelingt es über das Erzählen in Schnipseln von oft nicht mehr als einer halben Seite, in denen eine ganze Welt steckt. Mit liebevollem Humor seziert Kathrin Bach die deutsche Sehnsucht nach einer absoluten Sicherheit, die es nicht geben kann. Sie erstellt Listen ("Tragische Unfälle im Neubaugebiet", "Einige Gerichte, die ich ausgekotzt habe"), dokumentiert Gespräche ("Un, wie is? – Immer so weider"), beobachtet genau ("meine Mutter zieht die Handbremse, so fest sie kann") und findet ungewöhnliche Vergleiche ("Der letzte Schleudergang klingt wie ein Film von Quentin Tarantino").
Mittendrin steckt diese Ich-Erzählerin, die in eine Kultur der Angst hineinwächst, schon am Frühstückstisch schockierende Dinge aus der Nachbarschaft in bürokratischer Sprache zu hören bekommt, dabei von Jahr zu Jahr und von Unglück zu Unglück etwas mehr erkennt, wie unmöglich das Davonlaufen vor oder das Freikaufen von den Risiken des Lebens ist. Sie zieht später in eine große Stadt, wird Schriftstellerin. Selbstständig also – und in den Augen der Eltern allzu prekär. Doch will sie es schaffen, das Leben nicht mehr nur als Lebensversicherung zu begreifen, sondern sich ihres Lebens zu versichern. Christian Baron
Edition Azur, 240 SEITEN, 24 €
Ella Carina Werner: Der Hahn erläutert unentwegt der Henne, wie man Eier legt

Was für eine Erfolgsgeschichte! Aus verschiedenen Eingebungen heraus schreibt die Autorin, Satirikerin und Tierfreundin Ella Carina Werner ein Tiergedicht und veröffentlicht es in den sozialen Medien. Und wie sich dort so manches verselbständigt, werden ihre Gedichte geliebt und geliked, sie vermehren sich, bis der renommierte Kunstmann-Verlag auf sie aufmerksam wird und sie als Buch mit Illustrationen von Juliane Pieper herausbringt. Themen sind Mansplaining, Rente, Gendersternchen und andere Nicklichkeiten aus dem täglichen Geschlechterkrieg. "Der Hirsch singt schön/der Hirsch singt laut/von seiner zarten Hodenhaut/und seiner harten Marter/als Familienvater" ist nur ein Beispiel der Reime, die es hier zu entdecken gibt. Und da Ella Werner festgestellt hat, dass es in Literatur und Karikatur schon immer auch gereimte Tiergedichte gab, die aber durchweg von Männern gedrechselt wurden, kommen ihre feministischen Tiergedichte nicht einen Tag zu früh. Zumal sie uns mit einer Fortsetzung von Robert Gernhardts legendärem Nasenbär erfreut. Was ihm danach geschah, entdecke bitte in diesem köstlichen Buch.
Jenny Mansch
Kunstmann 2025. Illustriert von Juliane Pieper, 160 S., 22 €
Liz Moore: Der Gott des Waldes

August 1975 in den Adirondack Mountains: Über Nacht verschwindet im Emerson Sommercamp ein Mädchen spurlos. Die 13-jährige Barbara ist keine gewöhnliche Camperin – jeder kennt sie als Tochter der einflussreichen Familie van Laar, der das Camp und das umliegende Naturreservat gehört. Barbara ist zudem die Schwester von Bear, einem Jungen, der seit 14 Jahren vermisst wird. Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Fällen? Liz Moore schildert die Ermittlungen im Stil eines Gesellschaftsromans. Dieser transportiert wichtige Themen: Soziale Ungleichheit, den Kampf um weibliche Selbstbestimmung, Wohlstandsverwahrlosung und Machtmissbrauch. Barbaras und Bears Mutter Alice, so zeigt sich, wurde von ihrem Mann und seinem sozialen Umfeld massiv unterdrückt. Moore ordnet ihre Figuren nicht dem mitreißenden Plot unter, sondern interessiert sich wirklich für sie. Auf diese Weise entstehen nicht nur vielschichtige Porträts mehrerer Protagonist*innen, sondern ein brisantes Zeitporträt der 1960er und 1970er Jahre. Seitdem hat sich vieles verändert, nur eines nicht: Der fatale gesellschaftliche Einfluss von Macht und Geld.
Günter Keil
C.H. Beck, übersetzt von Cornelius Hart, 590 S., 26 €