Ausgabe 05/2025
Die Regeln der Frauen

Nina George: Die Passantin
Frei sein, ohne jegliche Verpflichtungen. Ohne Zugriff des Lebenspartners, der Töchter, der Familie. Ohne den Druck und die Verpflichtungen des Berufs. Das wünscht sich die gefeierte Filmschauspielerin Jeanne Patou schon lange, und plötzlich, am 24. März 2015, hat sie die Gelegenheit dazu. An diesem Tag stürzt ein Flugzeug auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf in den französischen Alpen ab; alle Passagiere und die Besatzung sterben. Dieses Unglück ist real, und die fiktive Schauspielerin in Nina Georges Roman nutzt es, um in die Anonymität abzutauchen. Denn Jeanne Patou stand zwar auf der Passagierliste, entschied sich jedoch spontan, in Barcelona zu bleiben. Folglich bekommt sie nun mit, wie die Medien von ihrem Tod berichten. Ganz Europa glaubt, sie sei an Bord gewesen, und Patou beschließt, ihr Ableben anzunehmen.
Nina George erzählt von einer Frau, die freiwillig unsichtbar wird und alle Brücken zu ihrem vorherigen Leben abbricht. In einer rasanten, rhythmischen Sprache erkundet George das Gefühl von Freiheit und Grenzenlosigkeit, von weiblicher Selbstbestimmung ohne jegliche gesellschaftliche Norm. Jeanne Patou nennt sich fortan Sella, zieht in ein Haus, in dem acht weitere untergetauchte Frauen leben und erlebt pures Glück. Gemeinsam feiern die Untergetauchten ihre Unabhängigkeit, verhalten sich solidarisch und lassen sich gegenseitig genug Platz für eigene Erfahrungen. In diesem Schutzraum mitten in Barcelona gelten nur die Regeln der Frauen, und sie hören sich zu, im Gegensatz zu weiten Teilen der Gesellschaft, in der sie noch immer Gewalt aller Art ausgesetzt sind und im Fall von Übergriffen auch noch die Beweislast tragen.
Parallel zur neu gewonnenen Lebenslust der Schauspielerin zeigt Nina George auch ihre Unsicherheit, da Patou ihre selbstgewählte Isolation und Abgrenzung bisweilen hinterfragt. Will sie wirklich bis an ihr Lebensende anonym bleiben, und ihre Familie tatsächlich nie mehr sehen? Viereinhalb Jahre nach dem Untertauchen wird diese Frage auf einmal eminent: Die Schauspielerin streift über die La Rambla, eine Passantin unter vielen, als sie plötzlich ihrem Mann begegnet. Ihr ist schlagartig klar: Sie muss sich stellen – ihrem Mann, ihren Töchtern, aber vor allem: sich selbst. Ein scharfsinniges, lakonisch elegant erzähltes Porträt von zornigen Frauen und der Freiheit, die sie sich nehmen. Nina George inszeniert den Trip in die Freiheit wie einen Rausch, und sie spart nicht an bissigen Kommentaren zur Macht der Männer, der Kriegslüsternheit von Menschen und der Grausamkeit der Machtvollen.
Günter Keil
VERLAG KEIN & ABER 2025, 320 SEITEN. 26 Euro

Christian Baron: Drei Schwestern
Mira ist 17 Jahre alt, als sie schwanger wird, ihr Kind tot zur Welt bringt und der Kindsvater abgehauen ist. Und da sind Miras Schwestern Juli und Ella, die eine jünger, die andere deutlich älter. Mit diesem Roman schließt Christian Baron seine Kaiserslauterer Trilogie ab. Im ersten Band Ein Mann seiner Klasse, dessen Verfilmung gerade erst mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde, stand Barons Vater im Mittelpunkt der Arbeitermilieu-Studie, im dritten Band ist es nun seine Mutter Mira. Um sie dreht sich alles Handeln der Geschwister, des trinkenden Vaters und der kommunistischen Oma. Ottes, der Mira nach der Totgeburt so etwas wie Halt gibt, wird ihr Freund. Dennoch verlässt sie ihn, um nach Berlin zu gehen und der Enge des Milieus und der feuchten Wohnung zu entfliehen. Ihrer Herkunft entkommt sie aber auch in der Großstadt nicht. Wie schwer es für die junge Mira ist, sich gegen ihre Familie und Ottes zu behaupten, wird immer wieder in starken Szenen und Dialogen erzählt. Allein das Berliner Intermezzo verliert sich zuweilen in Klischees über das Kreuzberg der frühen 80er Jahre. Neben ihren Putzjobs beginnt Mira Gedichte zu schreiben und endet in einer Einzimmerbude mit Ottes am Rand von Kaiserslautern – noch immer jung und erneut schwanger. Aber voller Zuversicht für ihre und die Zukunft ihres Kindes. Petra Welzel
ROMAN, CLAASSEN 2025, 345 S., 24 €

Henrik Szántó: Treppe aus Papier
Ein altes Mietshaus, irgendwo in Deutschland. 217 Menschen haben bis jetzt in ihm gewohnt, neun Bewohner*innen sind dort verstorben, drei wurden in seinen Wänden geboren. Unter den letzteren sind Irma aus dem 1. Stock, die inzwischen 90 Jahre alt ist und Nele, 16, aus der 4. Etage. Die Schülerin lernt für eine Geschichtsklausur und stellt Fragen, nach den Nazis, nach Jüdinnen und Juden, und danach, wer im Haus für oder gegen Hitler war. So schweben plötzlich Fragen nach Schuld und Verantwortung durchs Treppenhaus, und Neles Eltern müssen widerwillig zugeben, dass der geliebte Opa ein begeisterter Nationalsozialist war. So beginnt Nele zu verstehen, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist, sondern nur wenige Stufen entfernt liegt. Und Irma spürt, dass sie vieles verdrängt hat, auch, dass sie damals das Versteck ihrer jüdischen Freundin verraten hat. Szántós hochwertige Sätze fließen durch alle Zimmer des Hauses, und er lässt es selbst erzählen, selbst feststellen: "Das Erinnerungsvermögen der Gegenstände übertrifft das der Menschen." Ein Buch gegen das Vergessen und Verschweigen, und eines, das kunstvoll Vergangenheit und Gegenwart, Schuld und Verantwortung verbindet. Eine literarische Aufarbeitung.
Günter Keil
BLESSING VERLAG 2025, 224 S., 23 €