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Großes Reinemachen in der Alten Pinakothek in München fürs belgische KönigspaarFoto: Lukas Barth/ddp

ver.di publik: "Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar." Das hat Bundeskanzler Friedrich Merz im August auf dem Landesparteitag seiner CDU in Niedersachsen gesagt. Auch die Arbeitgeberverbände drängen auf Einschnitte beim Sozialstaat. Wie blickst du darauf?

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Foto: Stefan Boness/IPON

Frank Werneke: Wir leisten heute volkswirtschaftlich viel mehr als in der Vergangenheit. Nur konzentrieren sich die Gewinne heute immer mehr als obszöner Reichtum in den Händen weniger. Bundesarbeitsministerin Bas hat deshalb recht, wenn sie das Geraune über den unbezahlbaren Sozialstaat als Bullshit zurückweist. Sie muss sich da auch nicht für die Wortwahl entschuldigen. Der Sozialstaat ist mehr, als viele im ersten Moment meinen. Er garantiert soziale Sicherheit, sorgt für gute Daseinsvorsorge und setzt den Rahmen für gute Arbeit. Das sind die entscheidenden Pfeiler für unser aller Arbeits- und Lebensbedingungen. Zudem stützt ein starker Sozialstaat in Krisenzeiten den Arbeitsmarkt und stabilisiert die Wirtschaft.

Das Trommelfeuer gegen den Sozialstaat legt die Axt an den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land.

Die Einlassungen des Kanzlers dagegen schüren Verunsicherung. Gerade jetzt, wo sich wieder mehr Menschen Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft machen, bräuchte es aus der Politik Signale von Stabilität und Verlässlichkeit. Das Trommelfeuer gegen den Sozialstaat legt die Axt an den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land. Das dürfen wir unter keinen Umständen zulassen! Im Bündnis mit den Sozialverbänden und anderen Kräften aus der Zivilgesellschaft, zusammen mit unseren Schwestergewerkschaften im DGB, müssen wir als ver.di daher den Widerstand gegen die Angriffe auf den Sozialstaat organisieren. Die Attacken gegen den Sozialstaat müssen aufhören. Ich erwarte von der gesamten Bundesregierung, dass sie auf billigen Populismus verzichtet und Antworten auf die eigentlichen Fragen gibt: Gehen wir endlich die Handlungsbedarfe in der sozialen Sicherung an, etwa in der Pflege? Wie will die Bundesregierung dafür sorgen, dass es wieder gerechter zugeht im Land und ausreichend Geld für die öffentlichen Aufgaben zur Verfügung steht?

Ran will Merz auch ans Arbeitszeitgesetz. Er will weg von der täglichen Höchstarbeitszeit von 8 Stunden zu einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit. Das soll Wirtschaft und Produktivität ankurbeln. Warum sagen ver.di und die anderen DGB -Gewerkschaften "Hände weg vom 8-Stunden-Tag"?

Die Arbeitsverdichtung hat über die Jahre stetig zugenommen und wächst ständig weiter. Immer mehr Arbeitnehmer*innen arbeiten schon jetzt an und über ihrer Belastungsgrenze. Mehr als 1,3 Milliarden Überstunden schieben die Beschäftigten vor sich her und können sie nicht abbauen, über 700 Millionen Überstunden waren unbezahlt. Und trotzdem wird der Eindruck erweckt, die deutsche Wirtschaft lahmt, weil die Arbeitnehmer*innen zu faul, zu unflexibel und ständig zu früh im Feierabend seien. Das ist eine Unverschämtheit! Gerade in vielen kleinen Betrieben ohne Tarifvertrag und Betriebsrat haben die Beschäftigten nur den blanken Text des Arbeitszeitgesetzes als Schutz. Würde künftig nur die EU-Arbeitszeitrichtlinie gelten, wären Arbeitstage mit 13 Stunden am Stück inklusive Pausen möglich. Gerade in der Paketzustellung, im Sicherheitsgewerbe, in der Logistik, der Pflege und im Handel würde der Druck auf die Beschäftigten ins Unerträgliche steigen. Auch bei den tarifgebundenen Arbeitgebern scharren manche schon mit den Hufen, um mit Verweis auf die tariflose Konkurrenz Druck auf Tarifregelungen zur Arbeitszeit zu machen.

Wir werden uns das nicht bieten lassen. Wo Flexibilität nötig ist, haben wir tarifliche Regelungen dafür. Das geltende Arbeitszeitgesetz gibt alles Notwendige her. Wir Gewerkschafter*innen haben den 8-Stunden Tag erkämpft und wir werden ihn jetzt verteidigen. Deshalb gehen wir in den Herbst mit Macht für die Acht!

Bei der Rente plant die Regierungskoalition aus Union und SPD ebenfalls Reformen. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas, SPD, will das Renten- niveau bis 2031 auf 48 Prozent stabilisieren. Was kommt da auf uns zu?

Die gesetzliche Rentenversicherung hat seit ihrer Einführung in Deutschland 1891 viele Krisen überstanden. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie schlechtgeredet oder kaputtgemacht wird. Wer lange gearbeitet hat, muss sich darauf verlassen können, dass die Rente zum Leben reicht. Bärbel Bas hat jetzt ein Rentenpaket in den Bundestag eingebracht, in dem das bestehende Rentenniveau von 48 Prozent bis zum Jahr 2031 stabilisiert wird. Ohne dieses Gesetz würde es ab dem nächsten Jahr sinken. Auch soll es einige Verbesserungen bei der betrieblichen Altersversorgung geben. Das, was jetzt gesetzlich auf den Weg gebracht wird, begrüße ich. Auch wenn wir als ver.di sagen, weitere Schritte sind eigentlich notwendig, das Rentenniveau sollte perspektivisch wieder über 50 Prozent liegen und Verbesserungen bei der Grundrente die Altersarmut begrenzen.

Wie realistisch ist es, das unter der amtierenden Regierung zu erreichen?

Was wir jetzt erleben, ist, dass sich die Arbeitgeberlobby und neoliberale Wirtschaftsprofessor*innen und auch Politiker*innen aus der Union selbst gegen dieses "kleine Rentenpaket" aufstellen. Sie versuchen die gesetzliche Rentenversicherung weidwund zu schießen. Das ist ein Vorgeschmack auf das, was noch bevorsteht. Der Kampf um die gesetzliche Rente startet erst richtig, wenn nächstes Jahr die von der Bundesregierung geplante Rentenkommission zusammenkommt. Die Agenda der Arbeitgeber ist klar: Sie wollen die gesetzliche Rente fleddern, sich aus der Verantwortung stehlen und die entstehende Versorgungslücke in Form von privater Vorsorge auf die Beschäftigten abwälzen. Und vor allem ein höheres Renteneintrittsalter. Junge Arbeitnehmer*innen will man hinter die Fichte führen, indem man ihnen diesen Plan als "Generationengerechtigkeit" verkauft.

"Sie versuchen die gesetzliche Rentenversicherung weidwund zu schießen. Das ist ein Vorgeschmack auf das, was noch bevorsteht."

Wir werden diese Spaltungsversuche nicht zulassen. Bei der Rente geht es nicht um jung gegen alt, sondern um Verteilungsfragen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen arm und reich. Eine den Lebensstandard sichernde gesetzliche Rente ist keine Utopie. Eine Erwerbstätigenversicherung, die Alle absichert, in die Alle einzahlen und für die alle Einkommensarten herangezogen werden, ist nachhaltig und solide finanzierbar. Ich bin stolz, dass wir in ver.di geschlossen hinter diesem Ziel stehen, und freue mich besonders darauf, gemeinsam mit der ver.di Jugend in diesen Kampf zu ziehen.

Teil des Sozialstaats ist auch die gesundheitliche Daseinsvorsorge. Finanzierungprobleme gibt es vor allem bei der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung. Was müsste passieren, um sie zu stabilisieren und drohende Beitragssatzsteigerungen zu stoppen?

Die finanziell schwierige Situation in der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung ist zumindest in Teilen das Ergebnis von politischen Fehlentscheidungen und der Tatsache geschuldet, das notwendige Reformen, insbesondere in der Pflege, nicht angepackt wurden. Zuallererst müssen jetzt die versicherungsfremden Leistungen von den Schultern der Versichertengemeinschaft genommen werden. Bei den Umbaukosten für die Krankenhausreform ist das auf unseren Druck hin gelungen. Das ist ein Erfolg, reicht aber nicht. Die Kassen – und damit wir alle – finanzieren in der Höhe von jährlich 10 Milliarden Euro Gesundheitskosten von Bürgergeldempfänger*innen. Obwohl das eindeutig Kosten sind, die von der Bundesregierung aufzubringen sind, nicht von den Beitragszahler*innen. Die Kassen verklagen jetzt die Regierung wegen dieses Missstandes, was wir als ver.di ausdrücklich begrüßen.

Gesundheitsministerin Warken lässt nun in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reform der Pflege Vorschläge erarbeiten. Die Sozialpartner, auch wir als zuständige Gewerkschaft, werden lediglich in Anhörungen beteiligt und sind nicht Teil der Beratungen. Das ist ein schlechtes Signal an all jene, die das auf Kante genähte Pflegesystem tagtäglich unter größtem persönlichen Einsatz am Laufen halten. Eine weitere Expertenkommission soll bis Frühjahr nächsten Jahres Maßnahmen zur Stabilisierung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung vorlegen. Auch hier gehört die Perspektive und die Expertise der Beschäftigten im Gesundheitswesen mit an den Tisch! Die Herausforderungen bei Pflege und Gesundheit können nur mit den Beschäftigten bewältigt werden, nicht gegen sie.

Was unternimmt ver.di, um das zu gewährleisten?

ver.di wird weiter klar Position beziehen. Wir stellen uns gegen alle Versuche, das Pflege- und Gesundheitssystem auf dem Rücken der Beschäftigten zu sanieren. Wir setzen uns für eine gute Gesundheitsversorgung und gegen Leistungskürzungen bei den Versicherten ein. Damit das gelingt, brauchen GKV und die Pflegeversicherung, neben der Befreiung von versicherungsfremden Leistungen eine breitere Einnahmebasis. Konkret: Eine höhere Beitragsbemessungsgrenze, damit große Einkommen mehr beitragen und vor allem eine höhere Pflichtversicherungsgrenze. Um die Finanzen nachhaltig auf solide Beine zu stellen, brauchen wir den Umbau zur Bürgerversicherung. Für die Pflege haben wir das in unserem Konzept zur solidarischen Pflegegarantie ausbuchstabiert.

Der Bundeskanzler fordert 5 Milliarden Euro Einsparungen beim Bürgergeld und zudem härtere Sanktionen. CDU -Generalsekretär Carsten Linnemann verlangt gar, dass Arbeitsfähige, die wiederholt eine zumutbare Arbeit ablehnen, gar keine Leistungen mehr erhalten. Was wird von der Bürgergeldreform übrigbleiben, wenn diese Pläne Wirklichkeit werden sollten?

"Ich weiß nicht, wen der Kanzler vor Augen hatte, als er sagte, wir hätten die letzten Jahre über unsere Verhältnisse gelebt. Menschen, die nur den gesetzlichen Mindestlohn bekommen oder von Bürgergeld leben müssen, können es zumindest nicht gewesen sein."

Nach oben rumkumpeln, nach unten treten. Da wo ich herkomme, gilt sowas als Charakterschwäche. Über 100 Milliarden Euro verliert unser Gemeinwesen jährlich durch Steuerhinterziehung, die legalen Steuertricks der Finanzelite kommen obendrauf. Und jetzt sollen 5 Milliarden ausgerechnet bei der Sicherung des Existenzminimums gespart werden? Zur Erinnerung: Wir sprechen hier vielfach über Menschen, die ihr spärliches Gehalt mit Bürgergeld aufstocken müssen, weil es zum Leben nicht reicht. Gerade Alleinerziehende sind betroffen, oftmals Frauen. Ich weiß nicht, wen der Kanzler vor Augen hatte, als er sagte, wir hätten die letzten Jahre über unsere Verhältnisse gelebt. Menschen, die nur den gesetzlichen Mindestlohn bekommen oder von Bürgergeld leben müssen, können es zumindest nicht gewesen sein.

Klar ist, das kulturelle Existenzminimum muss für jeden und jede gesichert sein. Das darf auch durch Sanktionen nicht ausgehebelt werden. Da ist zum Glück das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich. Mir stößt jedoch ebenso auf, dass nun das Schonvermögen wieder zusammengestrichen werden soll. Die Politik predigt den Menschen private Vorsorge und greift ihnen dann nach Jahren harter Arbeit in die Altersrücklage, nur weil es nicht schnell genug mit einem neuen Job klappt? Das schürt Angst bei den Betroffenen, das darf nicht sein!

Mit Grauen schaue ich aber auch auf den Vorstoß, den Vermittlungsvorrang wieder einzuführen. Denn das heißt in der Praxis, die Menschen werden in jeden noch so mies bezahlten und auf Kurzfrist angelegten Höllenjob gezwungen. Wenig später stehen sie dann wieder beim Amt und hängen in einer Spirale fest. Es bleibt richtig, stattdessen auf Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu setzen und dafür die nötigen Mittel bereitzustellen. Das schafft nachhaltige Beschäftigung und hilft unter dem Strich den Betroffenen genauso wie dem Arbeitsmarkt und den Sozialkassen. Deshalb: Kein Zurück zum Vermittlungszwang!

Carsten Linnemann kündigte unlängst auch an: "Es wird ein Herbst, der sich gewaschen hat." Was erwartest du?

Ich habe ja über die verschiedenen Kommissionen gesprochen, welche die Bundesregierung eingesetzt hat – zum Gesundheitssystem, der Pflege, hinzu kommt noch eine Sozialstaatskommission und diverse weitere Gruppen. Alle haben die Vorgabe bis Ende des Jahres Ergebnisse vorzulegen. Ich erwarte daher einen Dezember der Hiobsbotschaften. Darauf bereiten wir uns vor, auch um dann alternative Vorschläge vorzubringen. Aber keine Frage, Carsten Linnemann, die neue Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche, die Heerscharen von neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler*innen, sie alle werden in diesem Herbst ihre verbalen Angriffe auf den Sozialstaat fortsetzen und versuchen die Gesellschaft zu spalten.

Die große Mehrheit der Menschen ist jedoch gegen einen Sozialabbau, gegen Leistungskürzungen in der Sozialversicherung oder ein höheres Renteneintrittsalter. Das ist unsere Chance, die Gewerkschaften vertreten die Interessen der breiten Mehrheit der Bevölkerung. Das gilt es zu organisieren. Wir werden auf jeden Fall unsere ganze argumentative Stärke und unser politisches Gewicht in die Waagschale werfen, um die Angriffe auf den Sozialstaat abzuwehren. Auch weil wir wissen: Ist der Sozialstaat erst demontiert, dann stärkt das die extreme Rechte und gefährdet unsere Demokratie. INTERVIEW: Petra Welzel