Ausgabe 06/2025
Die Realität der Arbeit

ver.di publik: Welche Krankheiten wurden zuletzt in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen?
Katrin Willnecker: Insbesondere für Beschäftigte im Gesundheits-, Pflege- und Wohlfahrtsbereich ist die Anerkennung von COVID-19 unter der Berufskrankheit Nr. 3101, Infektionskrankheiten, wichtig. Darüber hinaus wurde die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bei Rettungs- und Notfallpersonal durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts im Juni 2023 faktisch als Berufskrankheit anerkannt, wobei Einzelfall-Voraussetzungen gelten. Zum 1. April 2025 wurde unter anderem die Schädigung der Rotatorenmanschette der Schulter durch langjährige intensive Belastung aufgenommen. Das ist für Reinigungskräfte, Pflegekräfte und Beschäftigte in der Logistik relevant.
Was bedeutet es, wenn eine Krankheit auf der Liste der Berufskrankheiten steht?
Die Anerkennung stellt offiziell fest, dass die Erkrankung durch die Arbeit verursacht werden kann.
Welche Auswirkung hat die Anerkennung ihrer Krankheit als Berufskrankheit für Beschäftigte?
Betroffenen haben Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung, etwa Heilbehandlungen, Rehabilitation, Renten bei bleibenden Schäden und Hinterbliebenenrenten. Die Kosten werden von den Unfallversicherungsträgern getragen, sodass Betroffene finanziell geschützt sind. Die BG Kliniken versorgen Menschen nach Arbeitsunfällen oder mit Berufskrankheiten und begleiten sie bis zur Rückkehr ins Alltagsleben – eine einmalige Verzahnung von Akut- und Rehamedizin in Deutschland.
Was müssen Betroffene tun, damit ihr Leiden als Berufskrankheit anerkannt wird?
Betroffene sollten einen Arzt aufsuchen. Dieser meldet den Verdacht an den Unfallversicherungsträger; alternativ können die Betroffenen die Anzeige selbst einreichen. Die Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse prüft den Fall und entscheidet über die Anerkennung.
Was können Betroffene tun, wenn ihr Antrag abgelehnt wird?
Sie können Widerspruch einlegen, der in den Renten- und Widerspruchsausschüssen mit Versicherten-, Arbeitgebervertreter*innen und Fachleuten geprüft wird. Die Vertreter*innen der Versicherten werden in den Berufsgenossenschaften und Unfallkassen unserer Branchen auch von ver.di gestellt. Sie wissen, wie Arbeits- und Lebensbedingungen tatsächlich aussehen und bringen ihre Erfahrungen ein. Bei erneuter Ablehnung bleibt der Klageweg über Sozialgerichte bis zum Bundessozialgericht offen.
Besteht auch Anspruch auf Prävention, damit Berufskrankheiten seltener auftreten?
Ja. Die Arbeitgeber haben Präventionspflichten wie die Gefährdungsbeurteilung, betriebliche Schutzmaßnahmen beziehungsweise arbeitsmedizinische Vorsorge. Unfallversicherungsträger beraten und kontrollieren Betriebe, während das DGUV-Vorschriften- und Regelwerk verdeutlicht, wie sichere und ge- sunde Arbeit praktisch umgesetzt wird.
Wie haben sich Arbeitsschutz und Prävention in den vergangenen Jahren verändert?
Arbeitsschutz und Prävention haben sich in den letzten Jahren durch neue Arbeitsformen wie Homeoffice oder Digitalisierung und eine stärkere Berücksichtigung psychischer Gesundheit weiterentwickelt, bleiben in vielen Betrieben jedoch weiterhin unzureichend umgesetzt.
Die Zahl der Verdachtsanzeigen ist bis 2022 stark gestiegen — und auch der Anteil der anerkannten Fälle: Woran liegt das?
Ein Hauptgrund war die COVID-19-Pandemie. Unterstützt wurde dies durch eine verbesserte Meldekultur, die Sensibilisierung und Aufklärung der Beschäftigten durch ver.di. Aktuell sinken die Zahlen wieder. 2024 sind Lärmschwerhörigkeit, chronische Hauterkrankungen und Bandscheibenleiden durch schweres Heben an der Spitze der BK-Anzeigen.
100 Jahre Berufskrankheiten – wie haben sich die als solche anerkannten Krankheiten im Laufe der Jahre entwickelt?
Seit 1925 hat sich die Liste der anerkannten Berufskrankheiten von wenigen Vergiftungen und Staublungen auf heute 85 Krankheiten erweitert. Das zeigt: Arbeitsschutz entwickelt sich weiter – aber er muss Schritt halten mit der Realität moderner Arbeit.
Warum gibt es kaum psychische Krankheiten auf der Liste der Berufskrankheiten?
ver.di fordert, dass psychische Erkrankungen, die klar auf berufliche Belastungen zurückzuführen sind, in das Berufskrankheitenrecht aufgenommen werden, zum Beispiel Depressionen oder Posttraumatische Belastungsstörungen. Beides wird zur Zeit im Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten beraten.
Wie engagiert sich ver.di dafür?
ver.di ist im Grundsatzausschuss Berufskrankheiten und im DGUV-Vorstand vertreten und setzt sich dafür ein, dass Prävention gestärkt und die Anerkennung von Berufskrankheiten fair gestaltet wird.
Interview: Heike Langenberg
"Betroffene haben Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung, etwa Heilbehandlungen, Rehabilitation, Renten bei bleibenden Schäden und Hinterbliebenenrenten."
Links
Berufskrankheiten ...
… sind Krankheiten, die in der offiziellen Berufskrankheiten-Liste (
Berufskrankheiten-Verordnung:
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung:
ver.di und soziale Selbstverwaltung: