Ausgabe 06/2025
Für das recht auf ein selbstbestimmtes Leben

5. November, 13 Uhr, Berlin-Kreuzberg: Eine Menschenansammlung von rund 40 Personen hat sich zusammengefunden. Über den Tag werden es zeitweise doppelt so viele sein. Einige stehen, viele sind in Rollstühlen oder E-Rollies unterwegs. Die Stimmung ist locker, alle sind motiviert. Ein Rap-Song schallt aus einem mobilen Lautsprecher. Die Beats sind eingängig, der Text folgt dem Rhythmus: "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" – "Genau!" antwortet die Menge.
Für 27 Stunden war die Senatsverwaltung für Soziales in Berlin besetzt – von Menschen mit Behinderung und ihren Assistent*innen, die für eine Bezahlung nach Tariflohn kämpfen. Die Aktion hatte das "Bündnis selbstbestimmt Leben" initiiert. Seit mehr als eineinhalb Jahren kämpft das Bündnis – nicht nur für faire Löhne, sondern auch um die Grundrechte von Menschen mit Behinderungen.
Persönliche Assistenz im Arbeitgeber*innen-Modell (AGM) bedeutet, dass Menschen mit Behinderung selbst Arbeitgeber*innen sind. Sie entscheiden, wer sie wann, wo und wie unterstützt. Die Kosten für die Assistenzen übernehmen die Pflegekassen und der Senat. Die Forderung: Wer als Persönliche Assistenz im AGM arbeitet, soll weiterhin nach Entgeltgruppe 5 (EG 5) bezahlt werden. Ein entsprechender Tarifvertrag existiert. Dieser wurde 2021 zwischen ver.di und dem Arbeitgeberverband (AAPA) abgeschlossen. Doch im Berliner Haushaltsplan für 2026/27 sind keine ausreichenden Mittel vorgesehen. Stattdessen hat Finanzsenator Steffen Evers (CDU) ein juristisches Gutachten in Auftrag gegeben. Damit will der Senat, unabhängig von ver.di, beurteilen, welche Bezahlung für die Arbeit als Persönliche Assistenz angemessen ist.
Schon jetzt werden die vereinbarten Tarife nicht in vollem Umfang refinanziert. Für Assistenzen und ihre Arbeitgeber*innen ist das ein unhaltbarer Zustand. "Ohne ausreichende Refinanzierung der Assistenz in den nächsten Jahren steht die Teilhabe und Inklusion in Berlin vor dem Aus", heißt es dazu vom Bündnis. Gesprächsanfragen an die Zuständigen in der Senatsverwaltung blieben immer wieder ohne Erfolg. So kam die Idee, persönlich in der Verwaltung vorbeizukommen, sagte eine Teilnehmerin am Rande der Besetzung.
Die Situation ist ernst
Im Foyer der Senatsverwaltung ist die Stimmung an diesem 5. November entspannt und freundlich. Zeitweise kommen hier mehr als zwanzig Menschen zum Protest zusammen. Der Raum ist mit Luftballons geschmückt. Dennoch ist klar, dass es den Besetzenden ernst ist. Sie geben Presseinterviews und tauschen sich untereinander aus. Alle wirken gut vorbereitet.
Carmela Sirkes de Capella ist eine von ihnen. Seit einem Jahr ist sie selbst Arbeitgeberin, erzählt sie. Das heißt: Sie stellt ihr Team eigenständig zusammen, ist die Chefin. Sie macht die Buchhaltung und die Überweisungen. "Dadurch ist alles besser geworden", sagte sie. Denn sie kann jetzt auf alles achten, was ihr wichtig ist. Dazu gehört, dass jetzt vor allem Frauen bei ihr arbeiten. Ohne ausreichende Finanzierung wird sie entweder Probleme haben, Assistent*innen zu finden, oder weniger Stunden Assistenz bekommen.
Marianne Tuckman, eine der Assistentinnen von Sirkes de Castella, arbeitet in Teilzeit im Team. Sie sagt: "Gerade reicht das Geld aus, aber wenn wir tatsächlich ab nächstem Jahr in eine niedrigere Tarifgruppe fallen, reicht es nicht mehr. Inflation, Mieten – es wird ja alles teurer in dieser Stadt." Was dann? Tuckman sagt, sie müsste sich dann eine andere Stelle suchen.
"Es ist einfach ein Menschenrecht, das Leben selbst zu gestalten", sagt Olivia, eine der Besetzenden, die auf eine 24-Stunden-Assistenz angewiesen ist, und erinnert daran, dass die UN-Menschenrechtskonvention ganz ausdrücklich auch für behinderte Menschen gilt. "Trotzdem erleben viele behinderte Menschen Diskriminierung. Man landet schnell in einer Art Parallelwelt, sowas wie Sonderschule oder Pflegeheim. Das AGM ist ein wichtiges Mittel, um sich selbst im Alltag Teilhabe zu verschaffen", sagt Olivia. Und natürlich soll es für die Persönliche Assistenz auch den vereinbarten Tariflohn geben.
Ivo Garbe, Gewerkschaftssekretär bei ver.di im Bereich Gesundheit, hat im vergangenen Jahr schon einige Aktionen unterstützt, die Refinanzierung vom Senat fordern. Er sagt, dass die persönlichen Assistenzen im Arbeitgeber*innen-Modell schon jetzt weniger verdienen als die Kolleg*innen bei Assistenzdiensten. "Seit Februar 2025 sind das 340 Euro im Monat. Ab 2026 wird dieser Lohnunterschied nochmal deutlich größer", so der Gewerkschafter.
Teilerfolg in Sicht
Am Nachmittag kommt Cansel Kizeltepe (SPD), Berliner Senatorin für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung zum Gespräch ins Verwaltungsfoyer und stellt einen Termin im Abgeordnetenhaus in Aussicht. Im Foyer freut man sich über das Ergebnis. Die Aktion hat etwas bewirkt. Weil die Versorgung im Foyer schwierig ist, stimmen sich in einer Versammlung die Anwesenden ab, wie es weitergehen soll. Ein Teil der Besetzenden harrt über Nacht aus, einige bleiben mehr als 24 Stunden.
Derweil bleibt die Finanzierung für die Persönliche Assistenz unsicher. Das Gespräch mit der Sozialsenatorin Kizeltepe sei zwar ein Teilerfolg, sagt eine Sprecherin des Bündnisses nach den Verhandlungen. Und immerhin gab es eine vage Zusicherung, die Refinanzierung zu gewährleisten. Doch falls es wieder einmal leere Versprechungen sind, "ist die Bereitschaft des Bündnisses für weitere und unerwartete Aktionen sehr hoch", so die Bündnissprecherin.
Behinderte Menschen besetzen den Senat
Am Mittwoch, den 5.11.25 haben behinderte Menschen die Berliner Sozialverwaltung für 27 Stunden besetzt, um solidarisch für ihre Pflegeassistenten für den vereinbarten Tariflohn zu kämpfen – und damit auch für ihr Recht auf selbstbestimmtes Leben und Teilhabe
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"Gerade reicht das Geld aus, aber wenn wir tatsächlich ab nächstem Jahr in eine niedrigere Tarifgruppe fallen, reicht es nicht mehr. Inflation, Mieten – es wird ja alles teurer in dieser Stadt."
Marianne Tuckman, Persönliche Assistenz